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Interview

Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon. Bild: Andreas Schütte

"Es gibt keine guten und bösen Menschen"

Von: Jan Strobel

16. Juni 2015

Der Philosoph und Autor Michael Schmidt-Salomon (47) gehört zu den profiliertesten Religionskritikern im deutschsprachigen Raum. Zum Welthumanistentag hält er morgen Abend im Cabaret Voltaire ein Referat zum Thema «Braucht der heutige Mensch noch Religion?»

Michael Schmidt-Salomon, wann besuchten Sie das letzte Mal eine Kirche – und aus welchem ­Anlass?

Vor wenigen Wochen besuchte ich die Kulturkirche Köln, wo mein Stiftungskollege Philipp Möller sein Buch «Isch hab Geisterblitz» präsentierte. Gottesdienstabstinenzler bin ich nun seit 30 Jahren – und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dadurch irgendetwas zu vermissen.

Sie bezeichnen sich nicht als «Atheisten», sondern als «evolutionären Humanisten». Was verstehen Sie darunter?

Als evolutionärer Humanist glaube ich nicht an Gott, Göttinnen oder Götter, sondern an den Menschen, genauer: an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Ich vertraue darauf, dass wir bessere Wege finden werden, um das Leid zu vermindern, die Freude zu vermehren und das Leben zu bewahren. Wer daran nicht glauben kann, ist kein Humanist, sondern Zyniker.

Wenn Sie, in aller Kürze, eine Gesellschaft skizzieren müssten, in der die Religion überhaupt keine Rolle mehr spielt, wäre dies das Paradies auf Erden?

Nein, denn die Evolution des Lebens auf unserem Planeten hat zwar eine schöne ökologische Nische für uns aufrecht gehende Affen geschaffen, aber kein Paradies, in dem wir auf Dauer sorgenfrei leben könnten. Auch ohne Religionen würden wir also mit mannigfaltigen Problemen zu kämpfen haben. Allerdings meine ich, dass es uns ohne die zusätzlichen Irritationen, die die Religionen erzeugen, viel leichter fallen würde, globale Ungerechtigkeiten zu beseitigen und für eine Durchsetzung der Menschenrechte zu sorgen.

Was bedeutet denn für Sie der Begriff Religion heute?

Der Theologe Friedrich Schleiermacher bezeichnete Religion als «Sinn und Geschmack fürs Unendliche». Dagegen hätte ich überhaupt nichts einzuwenden. Meist aber wird unter «Religion» etwas völlig anderes verstanden, nämlich institutionell abgesicherte Weltanschauungssysteme, die für sich reklamieren, im Besitz ewig gültiger Wahrheiten zu sein. Das Hauptproblem dieser religiösen Institutionen besteht darin, dass sie dazu neigen, überholte Vorstellungen vergangener Epochen in die heutige Zeit zu transportieren. Dagegen setze ich mich als religionskritischer Philosoph zur Wehr.

In Ihrem Buch «Jenseits von Gut und Böse» schrieben Sie vom «Sündenfall-Syndrom», das selbst areligiöse Menschen noch immer nicht überwunden hätten. Wie äussert sich dieses Phänomen?

Die meisten Menschen glauben noch immer, «das Böse» sei mit uns in die Welt gekommen. Tatsächlich aber sind Verhaltensweisen, die wir als «böse» etikettieren, etwa Mord, Raub, Vergewaltigung, Versklavung oder Betrug, auch im nicht menschlichen Tierreich weit verbreitet. In meinem Buch habe ich gezeigt, dass wir solchen Verhaltensweisen kulturell umso besser entgegenwirken können, je weniger wir sie mystifizieren und je eher wir anerkennen, dass es gute und böse Menschen ebenso wenig gibt wie gute und böse Katzen, Elefanten, Delfine oder Regenwürmer.

Seit den Terroranschlägen von Paris treibt die Furcht vor islamistischen Zellen gewissermassen im eigenen, aufgeklärten Haus Politik und Gesellschaft um. Wie kann Europa die Werte der Aufklärung gegen religiösen Fundamentalismus wirksam einsetzen?

Wir sollten zunächst einmal ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Humanismus und Aufklärung keine exklusiven Kulturgüter Europas sind, sondern dass es sich dabei um ein «Weltkulturerbe der Menschheit» handelt, an dem Menschen aller Zeiten und Kontinente gearbeitet haben. Ist uns das bewusst, können wir falsche Frontziehungen vermeiden. Auch heute leben im islamischen Kulturraum viele aufgeklärte Menschen, die mit grossem Mut gegen religiösen Fundamentalismus aufbegehren, Menschen wie Raif Badawi, der in Saudiarabien zu 1000 Peitschenhieben verurteilt wurde. Wenn wir den religiösen Fundamentalismus wirklich bekämpfen wollen, sollten wir Reformer wie Badawi massiv unterstützen und die Feinde der offenen Gesellschaft sehr viel stärker unter Druck setzen.

Angenommen, Sie kämen wider Erwarten in den Himmel. Was würden Sie dort als Erstes tun?

Das hinge davon ab, um welchen Himmel es sich handelt. Christen übersehen meist, dass das christliche Jenseits ebenso wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich ist wie ein antichristliches Jenseits, wo jeder Jesusanhänger postwendend in die Hölle geschickt wird. Unterstellen wir aber mal, ich würde im christlichen Himmel landen. Dann würde ich Gott fragen, warum er so viel unermessliches Leid bei Mensch und Tier in Kauf nahm und weshalb er so wenig an der «Bewahrung der Schöpfung» interessiert ist. Immerhin ist unsere Sonne ja so konfiguriert, dass sie schon in einigen Jahrmillionen alles Leben auf der Erde vernichten wird.

Das Referat findet am Donnerstag, 18. Juni, um 19 Uhr im Cabaret Voltaire statt. Eintritt frei. www.welthumanistentag.chwww.welthumanistentag.ch

ZUR PERSON:
Michael Schmidt-Salomon, geboren 1967, ist ein deutscher Philosph und religions- und kulturkritischer Publizist. Er ist Mitbegründer und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, die sich der Förderung einer humanistischen Weltanschauung verschreibt. 2007 leitete er die Kampagne «Wir haben abgeschworen!» des Zentralrats der Ex-Muslime, 2009 die Kampagne «Evolutionstag statt Christi  Himmelfahrt!» zum Darwinjahr. Zuletzt erschien im Piper-Verlag sein Buch «Hoffnung Mensch. Eine bessere Welt ist möglich». 

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