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Interview

Bekannt wie ein bunter Hund: AL-Politiker Mischa Schiwow sammelt für seine Anliegen oft Unterschriften am Kreuzplatz. (Bild: Christian Saggese)

Im höchsten Amt für alle da

Von: Isabella Seemann

18. Mai 2021

Als erster Politiker der Alternativen Liste (AL) wird der 59-jährige Mischa Schiwow den Gemeinderat für ein Jahr präsidieren. Neben seinem Engagement für die Quartiere in seinem Wahlkreis 7 / 8 ist die Wohnpolitik das grosse Thema, das ihn antreibt. 

 

Die AL stellt nach 31 Jahren Mitarbeit im Gemeinderat mit Ihnen erstmals den höchsten Zürcher. Stehen Sie unter grossem Druck?

Mischa Schiwow: Viel mehr unter grosser Vorfreude. Ich freue mich sehr auf die vielen Begegnungen mit der Bevölkerung, sobald das öffentliche Leben wieder anfängt.

Sie werden in einer turbulenten Zeit Gemeinderatspräsident. Wie erleben Sie die Corona-Krise?

Covid hat mich sehr stark betroffen. Ich habe zu Beginn der Pandemie meinen Schwager verloren. Vor wenigen Wochen bin ich selber an Covid erkrankt und hatte starke Atembeschwerden, die bis vor kurzem nachwirkten. Meinen Geruchs- und Geschmackssinn habe ich noch nicht ganz zurückerlangt. Es ist eine gemeine Krankheit, entsprechend wenig Verständnis habe ich für jene Leute, die die Massnahmen zur Eindämmung des Virus als Knute bezeichnen.

In Ihrem Beruf als Filmverleiher sind Sie wohl ebenfalls stark betroffen.

Seit 14 Monaten bin ich auf Kurzarbeit und unsere Filmverleihfirma erhielt Ausfallentschädigung vom Bund. In dieser Zeit waren die Kinos insgesamt circa acht Monate geschlossen, wir konnten kaum Filme verleihen. Es war ein Katastrophenjahr! Wir waren mit existentiellen Fragen konfrontiert, ob und wie lange wir das durchstehen – aber jetzt verspüre ich wieder Zuversicht.

Was treibt Sie als Kulturvermittler in die Lokalpolitik?

Das politische Engagement ist für mich ein ziviles Engagement, mit dem ich mich für die Gesellschaft einbringen möchte. In der Lokalpolitik kann man etwas bewirken, hier ist man näher an den Entscheidungsträgern als bei der nationalen Politik. Lange Zeit schien es chancenlos, dass die AL im bürgerlichen Wahlkreis 7/8 einen Sitz gewinnen wird. 2016 bin ich dann nachgerückt. Ich wollte mich mit der Gemeindepolitik vertieft auseinandersetzen und war in der Geschäftsprüfungskommission, in der man in alle Bereiche hineinsieht. Schliesslich war ich auch noch in der Parlamentarischen Untersuchungskommission zur ERZ, das war sehr spannend. Ich sehe mich nicht als klassischen Lokalpolitiker, der laufend Postulate einreicht. Eher bin ich einer, der nachfragt und sich Gedanken macht über das, was der Stadtrat und die Stadtverwaltung tun.

Eines Ihrer Schwerpunktthemen ist die Wohnpolitik. Weshalb messen Sie dem viel Wichtigkeit zu?

Einerseits aus eigener Betroffenheit, ich habe schon mehrmals meine Wohnung verloren und Schwierigkeiten gehabt, eine neue zu finden. Dabei stellte ich fest, dass es sehr viele Probleme in diesem Bereich gibt. Zürich befindet sich in einem rasanten Wandel. Der Richtplan fordert noch mehr Verdichtung beim Wohnungsbau, den ich grundsätzlich unterstütze, doch in dieser Form geht dies zu Lasten jener, die am wenigsten Geld haben. Es findet ein Bevölkerungsaustausch statt. Ein Teil der Leute kann sich eine Wohnung in Zürich schlicht nicht mehr leisten und wird verdrängt. Beispielhaft dafür stand die Hofacker-Siedlung mit vielen günstigen Wohnungen am Hegibachplatz, die einem Ersatzneubau weichen musste.

Haben Sie Durchbrüche erzielt?

Bei der Wohnpolitik habe ich mich in einen harten Brocken verbissen. Die Gegnerschaft ist extrem stark. In den nächsten Jahren wird sich die Lage noch verschärfen. Über 70 000 Stadtzürcher Wohnungen, also rund ein Drittel, sind im Besitz von Privatpersonen, davon sind viele über 70-jährig. Irgendwann kommen diese Häuser in eine Erbmasse, Rendite soll erzielt werden. Auch wenn ich oft auf verlorenem Posten stehe, so finde ich es doch sehr wichtig aufzuzeigen, dass man mit dieser Entwicklung nicht einverstanden ist. Mittlerweile stellt auch der Stadtrat die Frage der Sozialverträglichkeit bei der Verdichtung.

Was entfachte das Feuer der Politik in Ihnen?

Mein nonkonformistisches, linkes Elternhaus hat mich politisch stark beeinflusst. Wir gehörten keiner Religion an, meine Mutter arbeitete, der Vater half im Haushalt, das war in den 1960er Jahren ungewöhnlich in Hottingen. Zuhause wurde ständig über Politik diskutiert. Das habe ich im Blut.

Wo positionieren Sie sich im linken Spektrum?

Ich politisiere pointiert links von der rot-grünen Mehrheit in der Stadt Zürich. Die AL ist der Stachel im Fleisch, wir sind die Wachrüttler. Uns geht es um soziale Gerechtigkeit und Grundrechte, gerade auch beim Wohnen, damit nicht die unterste Schicht der Bevölkerung aus der Stadt rausmuss. Und das müssen wir dem Stadtrat und der Stadtverwaltung immer wieder klarmachen.

Immer wieder kommt es zu unheiligen Allianzen zwischen der AL und den Bürgerlichen, wie aktuell bei der Ausarbeitung des Drei-Drittels-Modells bei Geschäftsmieten oder bei Gebührensenkungen. Wie ordnen Sie das für sich ein?

Seit Jahrzehnten sagen wir, wir zahlen zu viel Gebühren, der Staat darf sich nicht bereichern auf Kosten der Gebührenzahlenden. Und wir werden nicht das Gegenteil behaupten, nur weil die FDP und die SVP der gleichen Meinung sind. Wir wollen für unsere Anliegen Mehrheiten schaffen. Bei uns heisst das dann halt «unheilige Allianz», bei der SP spräche man im selben Fall von «Koalition der Vernunft».

Was möchten Sie in Ihrem Jahr als Gemeinderatspräsident erreichen?

Es ist mir ein grosses Anliegen, Gemeinderatspräsident für alle Zürcher zu sein, für alle Stimmbürger, aber auch für alle, die nicht abstimmen oder am politischen Leben teilnehmen können, also auch für Ausländer, für Kinder, für Sans-Papiers. Diese Menschen will ich gezielt aufsuchen, bei den Werken von Pfarrer Sieber oder bei der Lebensmittelabgabe. Ich möchte zuhören, was sie zu sagen haben, und ich will ihnen versichern, dass es Leute gibt in der Politik, die sie unterstützen.

Wie nehmen Sie sich Zeit für Begegnungen mit der Bevölkerung in Ihrem Wahlkreis 7/8?

Ich stelle mich sehr gerne und sehr häufig an den Kreuzplatz, sammle Unterschriften für Petitionen und informiere die Öffentlichkeit über meine Anliegen. Ich schätze mich eher als schüchtern ein, aber wenn es darum geht, eine wichtige Sache wie den Erhalt von günstigem Wohnraum zu verteidigen, dann komme ich aus mir raus. Es ist ungemein spannend, mit den Leuten in Kontakt zu kommen, und mittlerweile bin ich bekannt wie ein bunter Hund.

Was beschäftigt die Bewohner Ihres Wahlkreises 7/8 am meisten?

Es sind vorwiegend die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums und die zukünftige Entwicklung der einzelnen Quartiere und damit einhergehend Fragen zum Wohnungsangebot, zu den Schulhäusern, die jetzt schon am Anschlag sind, oder auch zu den Quartierzentren, wie sie der kommunale Richtplan fördern soll. Das Quartier Hirslanden mit seinen vielen alten Wohnsiedlungen wird sich in den nächsten Jahren sehr stark verändern. Anlagestiftungen und Pensionskassen stehen schon in den Startlöchern. Mit Ersatzneubauten lässt sich hier viel herausholen. Da tickt eine Zeitbombe.

Welche Entwicklungen in Zürich bereiten Ihnen Sorge?

Wenn die Stadt wachsen soll, womit ich einverstanden bin, dann soll sie auch für jene wachsen, die hier in der Stadt Zürich arbeiten, die an der Kasse sitzen und den Abfall leeren. Der gemeinnützige Wohnraum muss auf dieses Drittelsziel hin wachsen. Im Moment geht es aber in die falsche Richtung. Immer mehr Leute werden aus der Stadt rausgedrängt, insbesondere die unteren und mittleren Einkommensschichten, die dann allenfalls pendeln müssen.

Worin liegen die grössten Herausforderungen der kommenden Jahre für das Parlament?

Der Gemeinderat wird sich mit Fragen zur Professionalisierung auseinandersetzen müssen, ähnlich wie dies beim Kantonsrat geschah. Das Pensum eines Gemeinderatsmitglieds beträgt im Minimum 20 Prozent, ich bin eher bei 50 Prozent, arbeite aber noch 80 Prozent. Die Wochenenden gehen für die Politik drauf. Der Verschleiss ist enorm, bereits sind 40 der Gemeinderäte in dieser Legislaturperiode zurückgetreten. Ein Drittel. So viele waren es noch selten. Da besteht klar Handlungsbedarf.

Mit welcher Persönlichkeit der Zürcher Geschichte würden Sie gerne bei einem Glas Wein diskutieren?

Mit den linken Gemeinderäten des Roten Zürichs der 1930er Jahre, die die Grundsteine legten für eine prosperierende Stadt. In Zeiten massiver Wohnungsnot nach der Weltwirtschaftskrise engagierten sie sich für eine aktive Boden- und Wohnbaupolitik und förderten den genossenschaftlichen Wohnungsbau. Mit diesen Leuten würde ich gerne darüber diskutieren, wie sie ihre Ideen entwickelten und umsetzten.

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