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Interview

Illustration: Daniel Lienhard

Im Job und in der Beziehung: Männer stehen unter Druck

Von: Ginger Hebel

06. Juni 2017

Erfahrungsgemäss reden Männer ungern über ihre Probleme, sie verdrängen sie lieber. Tony Styger vom Sorgentelefon 143 weiss: Männer mögen es handfest und wollen eine rasche Lösung.

Wer das Bedürfnis hat, zu reden, wählt die Nummer 143. 86 Freiwillige der Dargebotenen Hand Zürich hören zu. Stellenleiter Tony Styger ist Theologe mit psychologischer Ausbildung und Notfall-Seelsorger. Er hat sich intensiv mit der Männerwelt auseinandergesetzt. Anstoss gab das unübersehbare Missverhältnis. Bei den Ratsuchenden sind die Männer mit einem Viertel klar untervertreten.

Haben Männer weniger Probleme als Frauen?

Tony Styger: Männer haben oft ein kleineres Problembewusstsein, ich schliesse mich da mit ein. Wir verdrängen Probleme, während Frauen sie aktiv angehen. Hinzu kommt, dass viele Männer oft nicht so recht daran glauben, dass man mit Reden Probleme lösen kann. Sie sind nicht nur bei uns untervertreten, sondern auch bei anderen Beratungsstellen. Männer leiden oft lange vor sich hin, bis ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. In der Regel ist es die Partnerin, die sie motiviert, ein Problem in Angriff zu nehmen.

Warum fällt es Männern so schwer, über ihre Probleme zu reden?

Das ist eine Sozialisationsfrage. Besonders die ältere Generation hat Mühe damit, Gefühle zu zeigen. Ich bin als Bauernbub aufgewachsen, die Leistung zählte, persönlichen Problemen wurde oft wenig Beachtung geschenkt. Natürlich hat mich meine Mutter getröstet, wenn es mir mal nicht so gut ging, aber geredet hat man kaum darüber. Sich einzugestehen, dass man ein Problem eventuell nicht alleine lösen kann, ist keine Schande. Hilfe holen ist eine Stärke.

Die meisten Frauen und Männer, die bei der Dargebotenen Hand anrufen, sind zwischen 41 und 65 Jahre alt. Am zweitmeisten sind es bei den Männern jene unter 41, also vermehrt Jüngere.

Ich erachte diese Entwicklung als positiv, zeigt sie doch, dass eine Generation nachkommt, die sich öffnet und Probleme anspricht. Man muss aber dazu sagen, dass diejenigen zwischen 19 und 40 weniger oft zum Hörer greifen und die Onlineberatung via Mail und Chat bevorzugen. Dort ist die Hemmschwelle geringer. Wir haben uns oft überlegt, warum viele Jüngere auf uns zukommen, es liegt wohl an der Niederschwelligkeit. Bei uns muss sich niemand registrieren, diese Anonymität macht es leichter. Denn über eigene Probleme zu reden, erfordert ein Stück weit auch Mut.

 

Wann fühlt sich ein Mann verstanden?

Wenn er ernst genommen wird, das betrifft aber auch Frauen. Bei Männern ist zudem eine etwas andere Gesprächsführung angebracht. Wie fühlst du dich? Was spürst du? Das sind Fragen, die wenig hilfreich sind. Besser: Wo drückt der Schuh? Was ist passiert? Männer holen sich Hilfe in der Regel spät und wünschen sich dann eine rasche Lösung ihrer Probleme. Es ist daher wichtig, nicht nur zu reden, sondern auch einen konkreten Vorschlag zu machen. Männer mögen es handfest, während Frauen viel Wert auf Empathie legen. Das ist nicht unsere Stärke.

Ein Thema, das beide Geschlechter stark beschäftigt, ist die Einsamkeit. Man würde meinen, es gäbe heute mehr Möglichkeiten denn je, neue Leute kennen zu lernen und sich zu vernetzen.

Einsamkeit ist ein grosses Thema, es sind viel mehr Menschen einsam, als man meint. Ich erinnere mich an einen Mann, der uns zum Jahreswechsel anrief und alles Gute wünschte. Im Gespräch kam heraus, dass es niemanden sonst gab, dem er ein schönes neues Jahr hätte wünschen können. Einsamkeit ist beschämend, man kapselt sich ab. Manchmal kommt alles zusammen, eine Trennung, ein Jobverlust, eine Krankheit. Es braucht nicht so viel, bis ein System kippt.

Viele Menschen, die Sie anrufen, sind traurig oder verzweifelt. Belasten diese Anrufe?

Ein Stück weit schon, aber das sollen sie auch, sonst wären wir bei der Dargebotenen Hand am falschen Platz. Wir reden im Team miteinander, wenn uns Lebensgeschichten nicht mehr loslassen. Für viele Menschen, die uns anrufen, sind die Gespräche ein Stück weit Alltagsbewältigung. Manche wollen in einer schlaflosen Nacht aber auch niemanden wecken und rufen uns an, um ein Problem zu besprechen.

Warum sprechen Männer am Sorgentelefon häufig über Sexualität, Frauen hingegen kaum?

Es ist bei ihnen wohl das grössere Thema. Oft geht es um Zurückweisung und Unsicherheit. Viele können ihre Sexualität nicht so ausleben, wie sie möchten. Männer stehen häufig unter mehrfachem Druck, am Arbeitsplatz und in der Partnerschaft. Sie sollen ein einfühlsamer, aber doch starker Partner sein, ein guter Freund und ein präsenter Vater.

Weitere Informationen: Die Dargebotene Hand Zürich, Tel 143

www.143.ch

 

Sorgentelefon 143: Diese Themen bewegen

Im Jahr 2016 führte das Freiwilligenteam 22 130 Telefongespräche und 1726 Onlineberatungen. Im Jahr 2015 waren es 21 469 Ge­spräche und 1314 Onlineberatungen.

 ∙ Arbeit und Ausbildung sind bei den Männern ein grosses Thema.
 ∙ Körperliche Leiden, aber auch Familie und Erziehung sind typische Frauenthemen; Männer sprechen halb so oft darüber.
 ∙ Frauen und Männer legen ähnlich oft Probleme rund um Beziehungen auf den Tisch. Partnerschaftliche, aber auch zwischenmenschliche im Freundes- und Kollegenkreis oder am Arbeitsplatz.
 ∙ Männer sprechen doppelt so oft über ein Suchtproblem wie Frauen.
 ∙ Männer reden öfters über Sexualität, Frauen sehr selten.
 ∙ Frauen sprechen öfter über erlittene Gewalt als Männer, während Männer fast doppelt so häufig über Suizidalität sprechen.

Quelle: Die Dargebotene Hand, Statistik 2016. 

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