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Interview

Comic: Beni Merk

Ist eine Welt ohne Grenzen denkbar?

26. November 2019

Schlagabtausch: Eine gute Streitkultur und harte Debatten mit unterschiedlichen Standpunkten – davon lebt die Politik. Deshalb werfen sich im «Tagblatt» alle zwei Wochen zwei Stadtzürcher Parteipräsidenten oder Fraktionspräsidenten in einem Schlagabtausch den Ball zu. Heute fordert Andreas Kirstein, Gemeinderat und Fraktionspräsident AL Stadt Zürich, Ernst Danner, Gemeinderat und Präsident EVP Stadt Zürich, heraus.

Andreas Kirstein (Bild oben)
Jahrgang: 1963
Partei: AL
Politische Mandate: Gemeinderat und Fraktionspräsident AL Stadt Zürich
Beruf: Stellvertretender Direktor ETH-Bibliothek/ETH Zürich

Ernst Danner (Bild unten)
Jahrgang: 1953
Partei: EVP
Politische Mandate: Gemeinderat und Parteipräsident EVP Stadt Zürich
Beruf: Selbstständiger Rechtsanwalt
www.ernstdanner.ch

Andreas Kirstein: Lieber Ernst Danner. Du hast namens deiner Fraktion im Gemeinderat kürzlich ausgeführt, dass Grenzen für alle Menschen, die die Freiheit lieben, ein Ärgernis sind. Dies ist ganz im Sinne der AL. Mit John Lennons «Imagine there’s no countries» frage ich: Was könnten wir gemeinsam tun, um der Vision einer Welt ohne Grenzen näherzukommen?

Ernst Danner: Das sagte ich und fügte bei: «. . . aber wir können uns derzeit keine Politik vorstellen, die ohne Grenzen auskommt.» Die EVP will eine freie Welt, aber ohne Grenzen gibts totales Chaos oder eine totale Weltherrschaft. Weltweite Personenfreizügigkeit ist leider nicht machbar. Oder glaubt ihr Linken an diese Illusion?

Andreas Kirstein: Für DIE Linke kann ich nicht sprechen. Ich antworte mit John Lennon: «You may say I’m a dreamer, But I’m not the only one.» Alle wichtigen Ideen sind als Illusionen verschrien worden. Aber die Herausforderungen von heute und morgen können wir nur mit der Utopie einer Welt ohne Grenzen bewältigen.

Ernst Danner: John Lennons «There’s no heaven»-Utopie bringt nicht das Paradies. Weil wir Menschen unfähig zur Gerechtigkeit sind. Das wusste schon Apostel Paulus: Kein Einziger ist gerecht. Darum brauchen wir Erlösung durch Jesus Christus. Und vorläufig Grenzen. Und mehr. Meine Utopie ist: Hilfe vor Ort statt freier Migration.

Andreas Kirstein:
Bei Hilfe vor Ort sind wir uns für einmal einig. Und die Stadtbevölkerung ist uns mit der Annahme des Gegenvorschlags zur 1-Prozent-Initiative darin auch gefolgt. Mit nur einer Gemeinderätin, einem Gemeinderat mehr, wärt ihr eine Fraktion. Seid ihr offen für Überläufer aus anderen Fraktionen?

Ernst Danner: Ja, Fraktionsstärke wäre gut, wir sind offen für alle, die unsere Haltung teilen. Aber wir wollen nicht abwerben. Die EVP findet auch fraktionslos Gehör und ist unabhängig. Wie ist das bei der AL: Wie könnt ihr eure Rolle als «linkes Korrektiv» mit eurem Stadtratssitz unter einen Hut bringen?

Andreas Kirstein: Was heisst da Korrektiv. Wir gestalten. In der Stadtentwicklung, in der Energiepolitik, bei der Entwicklung der Tagesschulen. Und wir machen das erfolgreich, weil wir nicht nachplappern, was der Stadtrat sagt. Vermisst die EVP die Gestaltungsmöglichkeiten?

Ernst Danner: Die EVP hatte oft einen grossen Gestaltungsspielraum, weil sie als «Zünglein an der Waage» über Mehrheiten entschied. Jetzt gibt es Mehrheiten ohne uns, und doch können wir gestalten. Macht die AL mit? Einsatz für eine bessere internationale Bahnanbindung von Zürich, dafür weniger Kurzstreckenflüge?

Andreas Kirstein: Aber sicher. Die Stärkung des Bahnangebots auch und gerade bei den Nachtzügen ist zentral für die CO₂-Bilanz. Wie können wir generell den Einfluss der rot-grünen Städte auf die nationale Klimapolitik stärken?

Ernst Danner: Zürich gerät im Bahnfernverkehr ins Abseits. Zürich–Stuttgart, 200 km in 3 Stunden. Zürich–München, 300 km in 3,5 Stunden. Beides zu lang! Wollen wir für Lobbyarbeit beim Bund und international zugunsten des internationalen Bahnverkehrs Geld ins Budget nehmen? Und wo kompensieren wir diese Mehrkosten?

Andreas Kirstein: Da brauchte es wohl eher Lobbyarbeit in Berlin. Nach meinen letzten Reiseerfahrungen mit der Deutschen Bahn vermute ich: Da ist Hopfen und Malz verloren. Und wenn, dann gehört Lobbyarbeit zum normalen Aufgabenprofil des Stadtrats. Ein Extrabudget für einen Beratertross sprengt meine Nächstenliebe.

Ernst Danner: Einen Tross brauchte es nicht, aber doch mindestens eine Person, die das Thema kompetent bearbeitet. Die fehlt heute, deshalb läuft nichts. Gut, mit seinem Riesenbudget sollte der Stadtrat fähig sein, eine solche Fachperson zu beauftragen. Das können wir fordern. Und noch ökologischer: Weniger reisen . . .

Andreas Kirstein: Da bin ich ganz bei dir. Deine Steilpässe haben mich zum Denken angeregt, wie auch häufig deine Voten im Gemeinderat. Besten Dank für beides!

In der Ausgabe vom 11. 12. 2019 gibt Ernst Danner (EVP) den Steilpass
weiter an Marco Denoth (SP).

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