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Interview

Kein Geld: Die Zahl der armen Senioren nimmt seit Jahren zu. Bilder: istock, CLA

"Manche können nichts fürs Alter sparen"

Von: Clarissa Rohrbach

10. November 2015

Jährlich gibt es in der Schweiz 5000 neue Arme im AHV-Alter. Monika Greter ist Sozialberaterin bei Pro Senectute Kanton Zürich und erzählt von Senioren in der Not.

Frau Greter, wie kommt es zur ­Armut im Alter?
Ältere Menschen, die während der erwerbstätigen Zeit nicht genug in die AHV, in die Pensionskasse oder in die dritte Säule einzahlen konnten, rutschen schnell in die Armut ab. Im Unterschied zu jüngeren, die am Existenzminimum leben, haben sie keine Perspektive, mehr Geld zu bekommen. Die Rente bleibt bis zum Lebensende gleich.


Kann man da nicht vorbeugen?
Wer irgendwie kann, dem raten wir, auf das Alter hin zu sparen. Aber manchmal ist der Lohn so tief, dass man das einfach nicht kann.


Betrifft das nur die Unterschicht?
Nicht nur. Natürlich ist ein tiefer Lohn an die berufliche Position und an das Bildungsniveau gebunden. Doch auch Schicksalsschläge wie etwa eine Scheidung oder Arbeitslosigkeit können zu einer prekären finanziellen Lage führen.


Wie gehen die Betroffenen mit der Armut um?
Die meisten brauchen ihr Erspartes auf. Sie schlagen sich durch, bis sie gar nichts mehr haben. Wenn es dann zu unerwarteten gesundheitlichen Problemen kommt, haben sie starke Existenzängste. Sie können die zusätzlichen Gesundheitskosten nicht mehr finanzieren. So verschieben oder verzichten sie auf Eingriffe, Pflege oder Hilfsmittel.


Wie fühlen sich die Senioren, die Sie beraten?
Einige haben schlaflose Nächte oder essen nichts mehr. Andere wirken aggressiv oder resigniert. Allgemein sind sie dankbar für die Unterstützung von Pro Senectute. Wer wenige soziale Kontakte hat, weiss nicht, wo Hilfe suchen. Da braucht es noch mehr Öffentlichkeitsarbeit.


Wie helfen Sie?
Wir helfen, Ansprüche von Sozialversicherungen geltend zu machen. Bei der Anmeldung für Zusatzleistungen oder eine Hilflosenentschädigung unterstützen wir bei Bedarf. Wir füllen die Formulare aus und stellen mit unseren Klienten die nötigen Unterlagen zusammen. Bei einer ausgewiesenen Notsituation können wir finanzielle Unterstützung bei unserer Stiftung beantragen.


Einige Senioren wollen aber keine Zusatzleistungen. Sind sie zu stolz?
Sie schämen sich eher, von der staatlichen Geldern abhängig zu sein. Sie haben Respekt vor den Behörden und scheuen den administrativen Aufwand. Für die Anmeldung muss man seine finanzielle Situation mit diversen Dokumenten belegen.


Welche sind die extremsten Sparmassnahmen, die Sie mitbekommen haben?
Ein Mann verzichtete auf ein neues Gebiss, er lebte mit einem einzigen Zahn. Andere stellten die Heizung ab. Es ist sehr individuell, wo die Leute sparen. Aber am häufigsten streichen sie bei den Ferien, bei Freizeitaktivitäten oder beim Auto.


Führt das auch zu Einsamkeit?
Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl. Einige können gut mit dem Alleinsein umgehen, andere weniger. Aber die Armut führt sicher zum Rückzug vom gesellschaftlichen Leben. Ältere Menschen mit wenig Geld vernachlässigen ihre Kontakte aufgrund fehlender Ressourcen und verlieren nach und nach Freunde und Bekannte.


Beraten Sie mehr Einzelpersonen?
Eindeutig ja. Unsere Klienten sind am häufigsten Frauen über 80 Jahre, die ihre Kinder zu Hause grossgezogen und darum Lücken in der AHV haben. Oder solche, die – nachdem der Mann gestorben ist – nicht mehr über die Runden kommen.


Fürs Wohnen gibt man das meiste Geld aus. Wie gehen Zürcher Senioren mit den hohen Mieten in der Stadt um?
Die Mieten in Zürich sind meist höher als der Ansatz in den Zusatzleistungen. Finanzschwache Senioren müssen die Differenz vom Einkommen für den Lebensunterhalt aufwenden. Problematisch ist auch die Aufwertung der Immobilien. Alte Wohnungen werden renoviert und dann teuer vermietet. Für Senioren ist es dann besonders schwierig,  ­etwas  Günstiges zu ­finden.  Das ist eine grosse Belastung.

 

Ein Leben in Armut

Anna Müller* lebt auf 25 Quadratmetern. Für ihre 1-Zimmer-Wohnung in Seebach bezahlt sie 670 Franken. «Ich suche etwas Grösseres, aber ich bekomme nichts zu diesem Preis», sagt die 73-Jährige. Ohne Ergänzungleistungen könnte sie nicht leben. Vor zehn Jahren, als sie pensionierte wurde, hatte sie grosse Angst, dass sie keine bekommen würde. Die Verkäuferin verdiente 13 Franken pro Stunde und wusste, dass die AHV ihr nicht genügt. Nach einem Spitalaufenthalt, der sie 2500 Franken kostete, fragte sie Pro Senectute um Hilfe. «Hätten sie mir die Rechnung nicht bezahlt, hätte ich nicht gewusst, wie weiter.»
Müller lebt mit 2600 Franken im Monat. Sie kauft Aktionen und die Kleider bei Chicorée, wo ein Pulli auch mal 10 Franken kostet. Ihre beste Freundin ist gestorben, eine weitere ist gelähmt. Die Alleinstehende liest viele Zeitschriften, schaut Fernsehen oder geht spazieren. Ihr Mann ist verstorben. «Wäre er noch da, könnte ich mehr unternehmen.» Wegen des grauen Stars sieht sie auf einem Aug fast nichts mehr. Doch die Spezialbrille kostet 800 Franken, eine Ausgabe, die sich Müller nicht leisten kann. «Ich habe ständig Angst, dass wieder gesundheitliche Kosten anstehen, die ich nicht bezahlen kann. Es ist nicht einfach.»
* Namen geändert

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