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Interview

Wenn selbst der morgendliche Kaffee nichts mehr nützt: Chronische Erschöpfung kann eine Folgeerkrankung von Stress sein. Symbolbild: iStock

Mit Eisen und Wertschätzung die Stressfolgen bekämpfen

Von: Sacha Beuth

24. März 2020

Anhaltende Müdigkeit, ständige Kopfschmerzen oder Konzentrationsschwierigkeiten – immer mehr Menschen kämpfen mit Stressfolgeerkrankungen. Die Ursachen sind laut Ferdinand Jaggi, Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin und Lehrbeauftragter der Uni Zürich, vielfältig. Einer der Hauptgründe ist Eisenmangel. 

Der Coronavirus setzt gerade alle unter Stress. Sind auch durch ihn Stressfolgeerkrankungen zu erwarten beziehungsweise behandeln Sie bereits deswegen Patienten?

Ferdinand Jaggi: Ja, die aktuellen völlig ungewohnten, kriegsähnlichen Lebensumstände mit verordneter Isolation und Quarantäne führten schon in den ersten Tagen bei vielen Menschen zu gedrückter Stimmungslage, Konzentrationsstörungen, Angstzuständen und schlechtem Schlaf. Beim extrem geforderten medizinischen Personal sind körperliche und psychische Erschöpfungszustände mit Somatisierungsstörungen (Kopfschmerzen, Migräne, Bauchbeschwerden mit Verdauungsstörungen und Rückenschmerzen) vorhanden. Eine entsprechende Zunahme von solchen Erkrankungen sind leider in der Allgemeinpraxis schon feststellbar.

Welche Anzeichen deuten generell auf eine Stressfolgeerkrankung hin?

Unruhezustände, Gereiztheit mit aggressiver Grundstimmung, nervöse Spannungszustände mit kreisenden Gedanken, schlechte Konzentration, Ein- und Durchschlafstörungen. Aber auch körperliche Symptome können darauf hindeuten: Herzstolpern, rascher Puls, der beim Einschlafen störend auftritt, Schwindelbeschwerden, Ohrrauschen (Tinnitus) und nächtliches Zähneknirschen, Magen- und Darmkrämpfe sowie Stuhlunregelmässigkeiten.

Wie häufig sind Beschwerden wie Müdigkeit und Erschöpfung bei Patientinnen und Patienten, die zum Hausarzt gehen?

Sehr häufig: Sie werden meist nicht primär von den Patienten angesprochen. Bei den Beschwerden stehen körperliche Symptome im Vordergrund. Im tiefergehenden Gespräch wird aber häufig offenkundig, dass Müdigkeit und Erschöpfung ein zentrales Problem darstellen.

Wie erkennt man, ob die Beschwerden eher auf ein psychisches Problem wie Depression oder ein physisches wie Hormon-/Vitamin- oder Eisenmangel zurückzuführen sind?

Es empfiehlt sich zunächst nach somatischen (körperbezogenen) Ursachen mittels klinischer Untersuchung und Labortests eventuell unter Beizug von Fachspezialisten (zum Beispiel Endokrinologen) zu suchen. Falls dabei alles unauffällig ausfällt, kann im Anschluss eine psychische Ursache gesucht werden.

Gehen wir auf die körperbezogenen Ursachen näher ein und beginnen wir beim Eisenmangel. Wie wird dieser diagnostiziert?

Bereits ein Eisenmangel ohne Anämie (Blutarmut) kann zu Beeinträchtigungen führen und ist dann behandlungsbedürftig. Das Auftreten der Symptome hängt von der Dauer und Schwere des Eisenmangels ab. Allgemeine Zeichen sind muskuläre Schwächen und herabgesetzte Ausdauerleistung, Müdigkeit, Reizbarkeit, Schwindel, kognitive Störungen (Konzentrationsschwäche, beeinträchtigte Lernfähigkeit, Gedächtnisstörung), Kopfschmerzen, Kältegefühl, Blässe der Haut und der Schleimhäute sowie brüchige Nägel und Haarausfall.

Ähnliche Symptome können durch verschiedene Ursachen hervorgerufen werden, wie unterscheiden Sie Eisenmangel von anderen Krankheiten?

Durch die körperliche, ärztliche Untersuchung und weitergehende Labortestungen.

Welches sind die Gründe, dass es zu einem Eisenmangel kommen kann?

Zu den häufigsten Gründen zählen Blut- beziehungsweise Eisenverlust (Menstruation, häufige Blutspenden, Krebserkrankungen), erhöhter Eisenbedarf (Wachstum, Schwangerschaft, Stillperiode) und verminderte Aufnahme (entzündliche Darmerkrankungen, vegetarischer, veganer Lebensstil). Die Menschen ernähren sich heutzutage zwar gemeinhin ausgewogener als früher, aber gewisse Umstände wie Wachstum und Monatsblutung gehören nach wie vor zum Alltag und darum kommt es auch nach wie vor zu Eisenmangel.

Was für Patiententypen mit Eisenmangel kommen in Ihre Praxis?

Am häufigsten sind weibliche Patienten.

Über welche Beschwerden klagen die Patienten mit Eisenmangel?

Am meisten wird über Leistungsschwäche und Atemnot (beim Sport, Treppensteigen) über Müdigkeit, Reizbarkeit und Schwindel geklagt.

Ab welchem Zeitpunkt sollte man zum Arzt gehen?

Sobald Erschöpfung und Begleitsymptome (siehe oben) das Alltagserleben stark beeinträchtigen.

Wie wird Eisenmangel behandelt?

Zunächst wird eine Eisenersatztherapie über gute Eisenlieferanten im Speisezettel angegangen: Zu diesen zählen rotes Muskelfleisch, Leber, Hülsenfrüchte wie Linsen oder Erbsen, Nüsse und Samen (Haselnüsse, Sonnenblumenkerne, Leinsamen), Gemüse (insbesondere Schwarzwurzeln und Zwiebeln) sowie Kräuter (Kresse, Petersilie). Dabei wird die Aufnahme durch Vitamin C (Zitrusfrüchte) gefördert. Sollten die Eisenwerte im Labor nach drei bis sechs Monaten nicht genügend sein, wird oft auf eine medikamentöse Eisentherapie zurückgegriffen.

Wie schnell bessern sich die Beschwerden der Patienten nach der Behandlung?

Das ist individuell sehr verschieden je nach Resorptionssituation (Aufnahmefähigkeit von Stoffen) im Darm und Ernährungsvorlieben der Patienten.

Was sagen Sie zu der Behauptung, dass in der Schweiz zu viele Eisenmangelbehandlungen gemacht werden?

In der Allgemeinen Inneren Medizin wird eine medikamentöse Eisensubstitution nur bei stark erschöpften Eisenreserven (Serum-Ferritin-Wert weniger als 30 bis 50 ng/ml) vorgenommen, sofern eine Ersatzbehandlung mit eisenhaltigen Nahrungsmitteln nicht erfolgreich war.

Was ist für Eisenmangelpatienten vor einer Operation besonders zu beachten?

Je nach Eingriff muss ein bestimmter Grenzwert betreffend Eisenspeicher / Eisenreserven berücksichtigt werden.

Wie werden Vitamin- und Hormonmangel diagnostiziert und wie werden diese behoben?

Die Diagnose erfolgt mittels Laboranalysen, wie z.B. die Kontrolle von Schilddrüsen-, Testosteron-, Vitamin-D3- und Vitamin-B12-Serumspiegeln. Ein festgestellter Mangelzustand wird durch den Einsatz von Medikamenten (z.B. Tabletten- oder Injektionen) vorgenommen, wobei dies vom Grade der Erschöpfung und ihrer Begleitsymptome abhängig ist. So kann beispielsweise ein diagnostizierter Schilddrüsenhormon-Mangel mittels Einnahme niedrigdosierter Hormonersatzpräparate auf dem Tablettenweg rasch kompensiert werden. Bei einem festgestellten Vitamin-B12-Mangel als Erschöpfungsursache muss oft der parenterale (durch Injektionen zu verabreichende) Ersatz gewählt werden, da Vitamin B12 in Tablettenform manchmal ungenügend im Darm aufgenommen wird.

Welche Massnahmen können getroffen werden, wenn die Ursache für eine Stressfolgeerkrankung psychischer Natur ist?

Entscheidend ist zunächst, dass die Behandlungsbedürftigkeit erkannt und ein entsprechender Therapeut (Hausarzt, Psychiater, Psychologe) aufgesucht wird. Dann folgt die Entlastung von Stressoren. Dies beinhaltet, das Gespräch mit dem entsprechenden Umfeld zu suchen. Eventuell ist auch die kurz- oder langfristige Reduktion des Arbeitspensums anzustreben. Als dritter Punkt empfehlen sich Massnahmen der Erholung – beispielsweise ein freier Nachmittag oder Abend für Fitnesstraining oder andere Hobbys – in den Wochenablauf einzubauen.

Liegen die Ursachen im Arbeitsumfeld, kann man selbst nur bedingt Massnahmen treffen. Der Chef wird kaum akzeptieren, dass man für gleichen Lohn weniger arbeiten will, und Jobs gibt es ja nicht wie Sand am Meer. Was empfehlen Sie?

Ein offenes Gespräch (unter Einbezug der verantwortlichen Chefs und Coaches der Human-Resources-Abteilung) mit der Bitte um Reduktion der Stressbelastung – eventuell unter Zuzug eines externen Vertrauensarztes – kann oft Wunder bewirken.

Laut Medienberichten leiden nicht nur Erwachsene, sondern immer mehr Kinder und Jugendliche unter Stressfolgeerkrankungen. Warum?

Weil die Anforderungen im Schulwesen mit IT-Technologien und zunehmender Selbstverantwortung sowie hohen Anforderungen der Teamfähigkeit bereits im Grundschulbereich laufend steigen. Heutzutage müssen auch die Schüler an Wochenenden zunehmend erreichbar sein, für Übermittlung von Lernzielen et cetera ...

Hat die Gesellschaft heute generell zu viel Stress und falls ja: Welche Massnahmen müssten ergriffen werden?

Das ist ein philosophisches Problem: Es muss sich zunehmend eine Kultur der höheren Werte und Sinngebung in unserer übermässig leistungsorientierten Gesellschaft etablieren. Prioritär sollte das Erreichen von ideellen (nicht materiellen) Zielen sein. Gerade in der jetzigen Krise sollten mehr Sinn-Erfahrungen in Familien-, Liebes- und Arbeitsbeziehungen einfliessen nach dem Motto: «Nichts brauchen wir dringender als Wertschätzung, Mitgefühl und Achtung. Menschen brauchen Menschen.»

Dieses Interview entstand in Zusammenarbeit mit Vifor Pharma. Es wurde anstelle des «Tagblatt»-Forums zum Thema «Ursachen von Stressfolgeerkrankungen» geführt, welches für den 19. März geplant war, wegen der Coronavirus-Massnahmen jedoch abgesagt wurde.

Zur Person

Ferdinand Jaggi, geboren am 9.März 1961 in Zürich, ist Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin und leitet die von ihm gegründete Rüti Hof Praxis im Kreis 10. Zudem ist er Lehrbeauftragter der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind die hausärztliche Grundversorgung, das gesamte Gebiet der Allgemeinen Inneren Medizin sowie im Speziellen die Behandlung von Stressfolgeerkrankungen. Weitere Infos: www.drjaggi.ch

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