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Interview

Nackt und gemobbt: Pro Juventute informiert mit diesen Plakaten über Jugendliche die unter Sexting-Missbrauch leiden. Bild: Pro Juventute

"Mitschüler beschimpfen sie als 'Schlampe'"

Von: Clarissa Rohrbach

22. Oktober 2013

Pro Juventute packt mit einer neuen Aufklärungskampagne die Jugendgefahr «Sexting» an. Denn immer öfter entblössen sich Jugendliche, machen ein Foto und schicken es per Smartphone ihrem Partner. Doch nicht selten werden die intimen Bilder verbreitet, bis die ganze Schule oder sogar Unbekannte auf dem Internet das Opfer nackt sehen. Das kann zu massivem Cybermobbing und sogar Suizidgedanken führen. Psychologin Moana Crescionini hilft bei der Notrufnummer 147 den Betroffenen.

Tagblatt der Stadt Zürich: Moana Crescionini, wieso machen Jugendliche intime Fotos von sich selbst?

Moana Crescionini: Das Foto kann als Liebesbeweis für den Partner dienen oder einen unverbindlichen Flirt ankurbeln. Manchmal experimentieren Jugendliche so auch mit ihrer sexuellen Identität. Die Technologie hat neue Formen der Sexualität ermöglicht. Sexting ist an sich nicht das Problem, sondern dessen Missbrauch.

Also wenn jemand die Bilder sieht, für den sie nicht bestimmt waren.

Crescionini: Genau. Wenn sich ein Paar trennt, kann es vorkommen, dass der Junge frustriert ist. Er verschickt dann aus Rache die Bilder an seine Schulkollegen oder stellt sie ins Internet. Oder eine Drittperson, die einen bösen Scherz vorhat, hat Zugriff auf das Handy.

Wie fühlen sich die Opfer, die bei der Notrufnummer Hilfe suchen?

Crescionini: Sie sind beschämt, denn sie haben den Ruf in der Schule verloren, Mitschüler beschimpfen sie als «Schlampe». Das kann zu einem tiefen Selbstwert und einem Gefühl der Hilflosigkeit führen. Das Opfer meint, es stehe ganz allein da und sieht keinen Ausweg mehr. In schlimmen Fällen kommen depressive Symptome und auch Suizidgedanken vor. In den USA und in Grossbritannien haben sich Jugendliche deswegen schon umgebracht.

Buben werden wohl kaum als «Schlampe» beschimpft. Leiden männliche Jugendliche auch unter dem Mobbing?

Crescionini: Ja. Aber die Fälle sind anders. Es kann passieren, dass ein Junge von einem Kollegen unter der Dusche fotografiert wird. Wenn es Mitläufer gibt, die das Foto verteilen, dann verwandelt sich der Scherz schnell in ein Mobbing.

Jugendliche, die keine Bilder von nackten Mädchen auf dem Handy haben, gelten als Loser. Wie stark ist der Gruppendruck beim Sexting?

Crescionini: Tatsächlich sind die Fotos eine Art von Trophäensammlung und werden heutzutage wie Panini-Bilder ausgetauscht. Sie unterstreichen die Männlichkeit und erhöhen das Prestige. Auch die Mädchen stehen unter Druck. Sie sind gefordert, sich sexy zu präsentieren, müssen aber aufpassen, nicht allzu freizügig zu sein. Die weibliche Zurückhaltung wird trotzdem noch verlangt.

Müssen denn Mädchen tatsächlich intime Fotos von sich machen, um gemocht zu werden?

Crescionini: Es handelt sich um einen Geschlechterkonflikt. Die Mädchen möchten mit den Bildern gefallen, werden aber schnell als billig abgestempelt, wenn sie nicht vorsichtig sind. Es gibt einige, die Sexting ablehnen. Andere rufen uns auch an und fragen, ob sie mitmachen sollen. Ich sage ihnen, sie sollten es ja nicht nur wegen eines Jungen machen. Wichtig ist auch, sich gut zu überlegen, wie viel man preisgibt. Auch dezente Fotos können sinnlich sein, zum Beispiel im Bikini. Besser ist es auch, das Gesicht nicht zu zeigen.

Wissen die Eltern vom Sexting?

Crescionini: Selten. Die Sexualität ist in vielen Familien noch ein Tabuthema. Zudem setzen sich viele Eltern nicht mit neuen Medien wie Facebook, Whatsapp und Chat auseinander. Wenn die Situation ernst wird, brauchen die Opfer aber Erwachsene, die eingreifen. Man muss das Opfer stärken und wenn nötig rechtliche Schritte einleiten. Denn wer gegen den Willen des Betroffenen seine Bilder verbreitet, der macht sich strafbar.

Laut einer Umfrage wissen 8 von 10 Schweizern nicht, was Sexting ist. Pro Juventute lanciert deswegen die Aufklärungskampagne. Was sind die Ziele?

Crescionini: Wir möchten Eltern und Lehrpersonen informieren, um das Thema zu enttabuisieren und Medienkompetenz zu vermitteln. Und wir klären die Jugendlichen über die Konsequenzen von Sexting auf. Es soll nicht verboten werden, sondern es muss an die Eigenverantwortung appelliert werden. Bevor ein Jugendlicher das Foto macht, soll er sich fragen: Will ich das? Wie mache ich es? Was können die Folgen sein?

 

Die Stadtpolizei rät:

«Wir empfehlen grundsätzlich, keine intimen Bilder zu verschicken», sagt Marco Cortesi, Sprecher der Stadtpolizei Zürich. Für die Polizei sei es sehr schwierig, festzustellen, wer das Foto schliesslich veröffentlicht hat, vor allem wenn mehrere Täter involviert sind. Deswegen gäbe es kaum Verurteilungen für Sexting-Missbrauch. Bei den Jugenddiensten der Polizei seien tendenziell mehr Fälle gemeldet worden, doch die Dunkelziffer sei vermutlich sehr hoch. «Die meisten Betroffenen schämen sich und wollen die Sache nicht mit rechtlichen Schritten publik machen.» Laut Gesetz erwartet den Täter eine Freiheits- oder Geldstrafe je nachdem, was auf dem Bild zu sehen ist und ob es freiwillig verschickt wurde.  «Die einzige Möglichkeit, dem Mobbing ein Ende zu setzen, ist, das Foto vom Internet-Provider löschen zu lassen.» Die Stadtpolizei gibt ab nächster Woche aktuelle Tipps, um sich vor Internet-Missbrauch zu wehren auf:
www.schaugenau.ch

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