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Interview

Das Verlangen nach Nähe wächst in der Krise. «Kommunikation und Engagement sind in einer Beziehung entscheidend», sagt Paarforscher Guy Bodenmann. Bild: Unsplash

"Paare, die auch mal streiten, sind glücklicher"

Von: Ginger Hebel

23. März 2021

Partnerschaft: Er weiss, was die Liebe am Leben hält und warum so viele vermeintlich gute und langjährige Beziehungen scheitern. Der Zürcher Partnerschaftsforscher Guy Bodenmann spricht über Dating-Apps, die Wichtigkeit von Sex und die Pandemie als Stresstest für Paare und Familien. Von Ginger Hebel

Rechnen Sie mit einem Trennungs-Boom nach Corona?

Guy Bodenmann: Eine Zunahme von Trennungen erwarte ich allenfalls erst verzögert, wenn die Krise überstanden ist und man wieder besser abschätzen kann, was ein Auflösen der Beziehung für einen bedeutet. In Zeiten hoher Unsicherheiten und ökonomischer Risiken sinkt die Bereitschaft zur Trennung, da wünscht man sich Sicherheit im Bekannten und Altbewährten.

Durch Kurzarbeit und Home­office sitzen viele Paare und Familien ständig aufeinander. Oft führt dies zu Reibereien und Diskussionen. Wie lässt sich Abstand gewinnen?

Auch bei engen Raumverhältnissen lassen sich persönliche Inseln gestalten. Sei dies in Form von Rückzugsnischen zum Lesen, Musikhören, Meditieren oder Ausruhen in einem abgegrenzten Teil des Raums oder einem Zimmer. Man hängt beispielsweise ein Schild an die Türe «Bitte nicht stören». Alle sollen Zeiten definieren, wann sie den Raum nutzen dürfen. Zudem kann man Distanz im Freien finden; beim Spazieren, Joggen, Radfahren oder Einkaufen.

Freizeit- und Reisemöglichkeiten sind aktuell stark eingeschränkt. Pläne liegen auf Eis. Viele erleben dadurch einen Stillstand in der Beziehung.

Stillstand ist meist Ausdruck einer Monotonie, die sich in die Beziehung eingeschlichen hat. Das Paar ist auf dem Weg zur Entfremdung. Einerseits helfen dagegen spannende neue Projekte. Doch nach einiger Zeit stellt sich das Problem erneut ein. Die vielversprechendste Lösung ist das «persönliche Updating». Man sollte immer wieder über Wünsche, Ziele, Visionen sprechen. Sich austauschen über gemeinsame Lebensentwürfe. Damit bleibt man längerfristig für den anderen interessant und miteinander verbunden.

Dating-Apps verzeichnen während der Krise einen starken Zuwachs.

Verständlich. Das Verlangen nach Nähe wächst. Es war noch nie einfacher, einen Partner oder eine Partnerin kennen zu lernen. Dating-Plattformen haben die Partnersuche revolutioniert. Immer mehr Menschen lernen sich übers Internet kennen, durch alle Schichten und Altersklassen hindurch. Übers Internet geknüpfte Beziehungen sind die Zukunft.

Manche Menschen sind verliebt ins Verliebtsein – und entlieben sich schnell wieder.

Die Liebe ist etwas Hochspannendes, selbst die Wissenschaft kann bis heute nicht erklären, wie sie entsteht und funktioniert. Wir wissen zwar viel über physiologische Korrelate und welche Areale im Gehirn aktiviert sind, wenn jemand verliebt ist; jedoch nicht, warum wir uns verlieben oder wohin die Liebe entschwindet. Liebe lässt sich auch nicht erzwingen oder künstlich erzeugen. Aber sie lässt sich pflegen, damit sie nicht zugrundegeht.

Wer ist langfristig glücklicher: Paare, die in Dauerharmonie leben, oder Paare, die streiten?

Ganz klar: Paare, die auch mal streiten. Die negative Energie muss raus. Sagen Sie, was Sie nervt, traurig stimmt, kränkt und ärgert. Unschöne Gefühle lassen sich nur abbauen, indem man darüber redet. Wenn man auf engem Raum zusammenlebt, gibt es immer wieder Streitpunkte und Spannungen. Wer diese nie anspricht, staut die destruktive Energie an. Irgendwann eskaliert die Situation.

Was machen zufriedene Paare richtig?

Sie reden miteinander. Kommunikation ist der Schlüssel zu allem. Zweitens müssen sich beide Partner voll auf die Beziehung einlassen. Ansonsten entsteht ein Ungleichgewicht. Wenn eine Person erwartet, dass die andere viel investiert, selber aber nicht dazu bereit ist, funktioniert es nicht. Es mag unromantisch klingen, aber Liebe ist vergleichbar mit Aktien: Wer nicht investiert, gewinnt auch nicht. Ein Risiko bleibt immer.

Viele verbinden eine gute Beziehung mit körperlicher Nähe. Wie wichtig ist Sex wirklich?

Sex erzeugt Nähe und Intimität, es ist also eine wichtige Komponente. Heutzutage stehen aber viele Personen beruflich und privat unter Stress. Stress ist ein Lustkiller, dadurch wird auch die Häufigkeit sexueller Kontakte weniger und die Qualität verschlechtert sich. Eine gelebte Sexualität bedeutet, dass man sich in der Beziehung wohl, geschätzt und begehrt fühlt. Wenig Sex muss aber nicht schlimm sein, solange es für beide stimmt. Liebe kennt viele Formen.

Wie viel Ehrlichkeit verträgt die Liebe?

Das ist eine gute Frage. Darf man Geheimnisse vor dem anderen haben? Ich finde schon. Es geht in der Liebe nicht primär darum, alles von sich preiszugeben, aber es ist wichtig, sich dem anderen gegenüber emotional zu öffnen. Nur so lässt man einander teilhaben am Leben und bleibt spannend für den anderen. Manchmal muss man loslassen, was man liebt. Benötigt eine Partnerschaft Freiraum? Das Spiel zwischen Nähe und Distanz ist eine Gratwanderung. Es gibt Momente im Leben, da wünscht sich ein Partner mehr Abstand oder Nähe als der andere. Das ist normal. Schwierig wird es, wenn der andere das Gefühl bekommt, nicht mehr geliebt zu werden oder zu kurz zu kommen. Deshalb ist es so wichtig, über Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. Vielfach werden Signale in Beziehungen auch falsch interpretiert, was zu Missverständnissen und Enttäuschungen führt.

Mit welchen Problemen kommen Paare am häufigsten zu Ihnen?

Entfremdung ist ein grosses Thema. Dass man sich auseinanderlebt und den Draht zueinander verliert. Ich bin seit 25 Jahren im Geschäft, aber noch nie kamen so viele pensionierte Paare mit Beziehungsproblemen zu mir. Oft sind es eingespielte Rollen, die auseinanderbrechen, oder jahrzehntelang aufgestaute Gefühle, die plötzlich an die Oberfläche drängen. Sie haben gerade das Buch «Mit ganzem Herzen lieben» geschrieben. Wie liebt man mit ganzem Herzen? Engagement ist das Wichtigste. Dass man sich verbindlich einsetzt für die Liebe und mit dem Herzen dabei ist. Ohne diese Bereitschaft und ohne Wille funktioniert keine Beziehung langfristig.

Warum scheitern Beziehungen?

Dafür gibt es viele Gründe. Interessant ist, dass sich ein Viertel aller Paare scheiden lässt, obwohl sie eigentlich zufrieden sind. Häufig ist ein anderer Partner oder eine andere Partnerin im Spiel, der oder die besser zu sein verspricht. Attraktive Alternativen können selbst glückliche Partnerschaften gefährden. Ich sehe in der Therapie immer häufiger Paare, die sich zwar nicht körperlich betrügen, aber einander emotional untreu sind, indem sie beispielsweise heimlich intensiv mit anderen mailen und diesen Personen näher sind als dem eigenen Partner.

Wieso trennen sich Paare nach jahrzehntelanger Verbundenheit?

Vergleicht man die Statistiken aus den Jahren 1970 und 2020, stellt man fest, dass sich heute dreimal mehr Paare nach 25 Jahren Ehedauer trennen als noch vor 50 Jahren. Oft tauchen nach dieser Zeit Fragen auf wie «Habe ich etwas verpasst im Leben?», «Wars das jetzt oder kommt noch etwas Spannendes?». Wir wollen oft noch mehr aus unserem Leben pressen. Dabei darf man nie vergessen: Mit jedem Tag, den man mit dem aktuellen Partner zusammen verbringt und ihm nahe ist, wächst das gegenseitige Vertrauen und die Bindung. Diese Werte schätzen viele zu wenig. Dabei sind sie die wichtigste Investition in die Liebe.

Sie leben in einer langjährigen Beziehung. Was ist Ihr Geheimrezept?

Ich versuche, trotz voller Agenda ausreichend Zeit für unsere Partnerschaft zu erübrigen, ihr Priorität in meinem Leben zu geben und mich um diese mit kleineren und grösseren Zeichen der Zuneigung und Liebe zu engagieren.

Weitere Informationen: Guy Bodenmann, «Mit ganzem Herzen lieben», Patmos Verlag, erhältlich ab sofort im Buchhandel ISBN: 978-3-8436-1306-4 Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

Bücher zu gewinnen:

Das «Tagblatt» verlost 3 Bücher «Mit ganzem Herzen lieben» von Paarforscher Guy Bodenmann. Schreiben Sie uns eine Mail mit Name, Adresse, Telefonnummer und Betreff Liebe an: gewinn@tagblattzuerich.ch

 

 

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