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Interview

Menschen mit einer generalisierten Angststörung befürchten, sie könnten alles verlieren, obwohl es keinen Anlass dafür gibt. Bild: Keystone

"Sie sind gefangen in den Sorgen wie im Hamsterrad"

Von: Clarissa Rohrbach

11. Juni 2013

Es gibt Menschen, die malen sich ein Horrorszenario nach dem andern aus: Kündigung, pleitegehen, Angehörige verlieren. Die Sorgen lassen sie nicht los und erzeugen einen Dauerstress. Diese Personen leiden unter einer generalisierten Angststörung. Psychotherapeut Christoph Flückiger erklärt, wie schlimm sich das anfühlt und wie man es behandeln kann.

Tagblatt der Stadt Zürich: Herr Flückiger, Angst bewahrt uns vor gefährlichen Situationen. Ist das ­etwas Schlechtes?

Christoph Flückiger: Normale Ängste geben uns tatsächlich Hinweise, wie wir handeln sollen. Evolutionsgeschichtlich haben sie dem Menschen geholfen, abzuschätzen, ob er bei einer Gefahr kämpfen, flüchten oder erstarren soll. Heute geht es nicht nur um Leben und Tod. Ängste signalisieren uns, was in unserem Leben wichtig ist. Vor einer grossen Veränderung, wie etwa einem Jobwechsel oder einer Ehe, führt die Angst dazu, dass man sich fragt: Soll ich das ris­kieren oder nicht? Als Schutzmechanismus ist Angst etwas Gutes.

Sie forschen über Personen, die aber ständig Angst haben. Was macht die generalisierte Angststörung aus?

Flückiger: Menschen, die unter der Störung leiden, denken, dass Ängste etwas Schlechtes sind, sie haben Angst davor, Angst zu haben. Deswegen suchen sie immer nach Lösungen, welche aber die Aufgeregtheit nur vergrössern und neue Sorgen erzeugen. Im Kopf rattert es immer schneller, die Betroffenen befinden sich in einem Gewitter von schlimmen Szenarien und fragen sich gleichzeitig, wie sie diese verhindern können. Sie sind gefangen in der Sorgenkette wie in einem Hamsterrad.

Wenn ich Auto fahre, denke ich manchmal auch darüber nach, was Schlimmes passieren könnte. Bin ich gestört?

Flückiger: Ich bin mir sicher, irgendwann legen Sie die Horrorszenarien beiseite und sagen sich: «Alles Humbug, es kommt alles gut!» Es ist wie bei einem Date: Davor stehen sie stundenlang vor dem Spiegel und fürchten sich, etwas falsch zu machen. Danach sagen Sie sich aber: «Alles halb so wild.» Genau diesen Gegenmechanismus gibt es bei Personen mit generalisierter Angst nur selten. Sie können ihre Sorgen nicht stoppen und wissen sogar, dass es übertrieben ist, aber haben keine Kontrolle darüber. Das Fiese ist: An den Sorgen ist immer etwas Wahres dran, es könnte ja theo­retisch wirklich passieren.

Können Sie Beispiele nennen?

Flückiger: Ein Angestellter könnte Angst haben, bei jedem kleinsten Fehler, zum Beispiel weil ihn der Chef nicht begrüsst hat, seinen Job zu verlieren. Oder jemand, der 50 000 Franken auf dem Sparkonto hat, hat Angst, Ferien zu machen, weil er überzeugt ist, von einem Moment auf den nächsten zu ver­armen. Auch die Angst, der Sohn könnte sterben, weil er sich an einem Glas Bier HIV holt, oder der Ehemann könnte tödlich mit dem Auto verunfallen, nur weil es regnet, sind einige dieser übertriebenen Szenarien. Die Sorgen betreffen Bereiche wie Beruf, Finanzen, Familie und Gesundheit. Aber auch den Alltag. So kommen Angstgestörte 30 Minuten zu früh an eine Verabredung, aus Angst, sich zu verspäten, und sind meistens piekfein herausgeputzt, um ja nicht einen schlechten Eindruck zu vermitteln.

Merkt das Umfeld denn nicht, dass etwas nicht stimmt?

Flückiger: Die Angststörung ist sehr subtil, deswegen wird sie auch selten erkannt. Die Symptome bleiben versteckt, weil die Patienten die Sorgen oftmals für sich behalten und sich wenig anmerken lassen. Sie wissen ja, dass sie es übertreiben, und erkunden sich deswegen unauffällig. Sie kontrollieren oft auf dem Internet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für ihr Horrorszenario ist. Rufen sie Angehörige ständig an, denken Letztere nur, sie seien etwas zu sehr besorgt.

Wie fühlt sich eine Person mit generalisierter Angststörung?

Flückiger: Sie lebt in einem Dauerstress. Die ständigen Sorgen erzeugen Nervosität, Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Dies führt zu einem starken subjektiven Leidensdruck. Das Paradoxe ist, dass durch den konstanten Angstlevel die gesunden, berechtigten Warnsignale teilweise nicht mehr wahrgenommen werden. Der Sturm im Kopf ist so gross, dass er schnelle Reaktionen behindert und Situationen tatsächlich gefährlicher werden.

Wie kommt es dazu?

Flückiger: Es ist schwierig, zu sagen, wie im Einzelfall eine Angststörung entsteht, die meisten Patienten sind mittendrin und können es einfach nicht mehr abstellen. Aber 60 Prozent der Betroffenen waren schon als Kinder ängstlich. Meistens haben sie aus eigener Erfahrung oder durch Beobachtungen gelernt, sich zu sorgen. Dann genügt als ­Aus­löser eine Stresssituation. Die Gründe sind aber hochkomplex, es ist eine Kombination von Körper, Er­fahrungen und Umfeld. Angst­störungen sind ebenfalls kulturell bedingt, sie passieren nicht nur im Hirn.

Sie bieten eine kostenlose Therapie an (siehe Box). Was passiert da?

Flückiger: Falls nach sorgfältiger Abklärung eine generalisierte Angststörung festgestellt wird, helfen wir dem Patienten, seine Nervosität besser in den Griff zu bekommen. Danach gehts da­rum, die einzelnen Sorgen und Sorgenketten genau anzuschauen und zu hinterfragen. Der Patient lernt, die Sorgenketten zu durchbrechen, sodass die Sorgen nicht mehr so bedrückend sind.

Was passiert, wenn die Störung nicht behandelt wird?

Flückiger: Sie kann sich chronifizieren, was im schlimmsten Fall zu einer zusätzlichen Depression führen kann. Die Lebensqualität wird so weiter eingeschränkt.

Schweizer bevorzugen es, sicher zu handeln, anstatt Risiken einzugehen. Hat unsere Kultur einen Einfluss auf die Angst?

Flückiger: Ich habe nicht das Gefühl, dass Schweizer besonders ängstlich sind. Vor einigen Jahren habe ich in den USA gearbeitet, dort schienen mir die Personen nicht weniger besorgt.

Kostenlose Therapie

Erkennen Sie sich selbst oder eine angehörige Person in diesen Symptomen? Dann können Sie das Psychotherapeutische Zentrum der Uni Zürich kontaktieren. Es bietet im Rahmen einer Studie des Schweizerischen Nationalfonds eine kostenlose kognitive Verhaltenstherapie an. Vorgesehen sind insgesamt 15 Sitzungen während drei bis vier Monaten. 80 Prozent der Patienten fühlen sich nach der Behandlung besser.

Anmeldung und Selbsttest unter:

www.sorgenkette.ch

079 279 67 24

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