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Interview

Der Vaterschaftsurlaub ist umstritten. Die einen sehen darin einen Fortschritt in der Schweizer Familienpolitik, andere eine finanzielle Zusatzbelastung. Foto: Clipdealer

Sinnvolle Investition in die Familie oder weniger Lohn für alle

Von: Ginger Hebel

01. September 2020

Urnengang: Geht es um bezahlten Elternurlaub, gehen die Meinungen in der Schweiz stark auseinander. Am 27. September stimmt das Volk über die Änderung des Erwerbsersatzgesetzes ab. Am Anfang der hitzigen Diskussion stand eine Volksinitiative. Diese forderte vier Wochen Vaterschaftsurlaub, wurde aber nach dem Zwei-Wochen-Kompromiss zurückgezogen. Über diesen indirekten Gegenvorschlag wird jetzt abgestimmt. Michele Aversa von der Gewerkschaft Syna setzt sich für den Ausgleich von Arbeit und Freizeit sowie für Familien ein und befürwortet die Vorlage. Hans-Ulrich Bigler, Direktor Schweizerischer Gewerbeverband, findet den Vaterschaftsurlaub unsinnig und zu teuer. 

Ein Kind kommt zur Welt und der frischgebackene Vater darf bei der Arbeit aus gesetzlicher Sicht nur einen einzigen Tag fehlen. Was löst das in Ihnen aus?

Michele Aversa: Es ist ein Hohn. Ein Tag Urlaub bei der Geburt des eigenen Kindes, das ist so viel wie bei einem Umzug. Die Schweiz möchte sich immer als fortschrittlich anpreisen, doch in Wahrheit sind wir das einzige europäische Land ohne Vaterschafts- und Elternzeit. Wir hinken mit unserer veralteten Familienpolitik allen hinterher.

Hans-Ulrich Bigler: Ihre Frage löst bei mir in erster Linie Freude aus. Als dreifacher Vater waren alle Geburten meiner Kinder etwas Wunderschönes. Die Einzigartigkeit von neu geborenem Leben, fernab von staatlich verordnetem Vaterschaftsurlaub, werde ich nie mehr vergessen. Aber: Sehr viele Gesamtarbeitsverträge oder einzelbetriebliche Regelungen sehen bereits heute Vaterschaftsurlaube vor, die weit über das gesetzliche Minimum hinausgehen. Wer nicht in den Genuss solcher Regelungen kommt, kann oftmals Überzeit oder ein Ferienguthaben abbauen. Oder er kann unbezahlte Urlaubstage beziehen. Die Betriebe sind hier sehr flexibel und grosszügig.

Aversa: Ein gesetzlich geregelter Vaterschaftsurlaub würde die Schweiz für Familien aber wieder attraktiver machen.

Der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub ist ein Kompromiss, auf den sich der Bundesrat und das Parlament nach jahrelangem Hin und Her verständigt haben. Reichen zwei Wochen Papi-Zeit?

Aversa: Es wäre auf jeden Fall ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Untersuchungen zeigen, dass die ersten zwei, drei Wochen für die emotionale Bindung zwischen Vater und Kind sehr wichtig sind. Das Baby riecht und spürt den Vater, diese Anfangszeit lässt sich nicht kompensieren. Der Vaterschaftsurlaub soll aber auch der Entlastung und Unterstützung der Frau dienen, damit sie sich von der Geburt erholen kann. Die Familie soll die Möglichkeit haben, gemeinsam in die neue Rolle hineinzuwachsen.

Bigler: Der Bundesrat hat sich im Parlament gegen die Vorlage ausgesprochen, weil er das Kosten-Nutzen-Verhältnis als schlecht beurteilt. Es gibt bessere Instrumente, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern. Ich denke da etwa an die höheren Steuerabzüge bei den Kinderdrittbetreuungszulagen – eine Vorlage, die ich unterstütze. Zudem: Vaterschaftsurlaube auf der Basis von Gesamtarbeitsverträgen und einzelbetriebliche Lösungen sind oft grosszügiger und werden von den Betrieben zu 100 Prozent selbst finanziert. Den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub des Bundes müssten die Angestellten hingegen zur Hälfte selbst mitfinanzieren. Das ist unsinnig. Ich bin überzeugt, dass viele Stimmberechtigte die Vorlage ablehnen werden, weil sie nicht für etwas mitbezahlen wollen, das sie heute gratis bekommen.

Würde ein Vaterschaftsurlaub die Geschlechterrollen aufbrechen?

Aversa: Definitiv. Viele jüngere Männer definieren sich heute nicht mehr ausschliesslich über den Beruf. Sie sehen sich auch nicht mehr in der klassischen Rolle des Ernährers, der abends müde am Tisch sitzt und isst. Die Traditionalisten sterben aus. Die Väter von heute möchten von Anfang an präsent sein, Zeit mit ihren Kindern verbringen, sie miterziehen und die Partnerin unterstützen.

Bigler: Keinesfalls. Vaterschaftsurlaube sind teuer, führen zu höheren Lohnabzügen, stiften aber bestenfalls einen minimalen Nutzen. Die zwei Wochen Urlaub sind rasch einmal konsumiert und werden kaum je eine nachhaltige Wirkung zeigen. Wenn junge Väter eine aktivere Rolle innerhalb der Kinderbetreuung übernehmen wollen, braucht es Anpassungen, die langfristig wirken. Gefragt sind vor allem flexible Lösungen hinsichtlich der Arbeitspensen, der Arbeitszeiten und des Arbeitsorts. Die meisten Betriebe bieten Hand zu flexiblen Lösungen, weil es ihnen damit gelingt, qualifizierte Mitarbeitende längerfristig an ihren Betrieb zu binden.

Frauen, die Mütter werden, fällt der Einstieg zurück ins Berufsleben nicht immer leicht. Bedeutet der Vaterschaftsurlaub auch für Männer einen Karriereknick?

Aversa: Das glaube ich nicht. Grössere Firmen und Konzerne gewähren ihren Mitarbeitern bereits Vaterschaftsurlaub. Zudem realisieren immer mehr Arbeitgeber, dass übermüdete Väter am Arbeitsplatz keine Leistung bringen und die Unfallgefahr steigt. Ein gesetzlich geregelter Urlaub würde auch Kleinunternehmen gleichsetzen und allen identische Bedingungen ermöglichen. Ich wohne im Kreis 4 und sehe täglich Väter, die mit dem Kinderwagen spazieren gehen. Sie leben moderne Teilzeitmodelle und teilen sich in der Kinderbetreuung auf. Zudem haben viele Männer in der Corona-Zeit realisiert, wie wichtig funktionierende Familienstrukturen sind. Sie bilden das Rückgrat unserer Gesellschaft.

Bigler: Vaterschaftsurlaube haben viele Nachteile. Sie verursachen den Betrieben hohe direkte und indirekte Kosten und eine Menge organisatorischer Probleme, weil jede Abwesenheit eines Mitarbeitenden irgendwie überbrückt werden muss. Die Arbeitnehmenden haben höhere Lohnabzüge und damit sinkende Nettolöhne und allenfalls etwas mehr Stress am Arbeitsplatz in Kauf zu nehmen. Einen Karriereknick wird es deswegen aber sicher nicht geben.

Der Vaterschaftsurlaub würde durch die Erwerbsersatzordnung bezahlt, die auch den Mutterschaftsurlaub finanziert. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf 230 Millionen Franken. Kann sich in der Corona-Krise die Schweiz so einen Vaterschaftsurlaub überhaupt leisten?

Aversa: Die Lohnabzüge müssten in der Folge um 0,05 Prozent erhöht werden, das entspricht im Schnitt 20 Franken pro Monat und Arbeitnehmer – ein lächerlicher Beitrag für eine gute Investition. Die Kosten würden auf alle Erwerbstätigen und Arbeitgeber verteilt.

Bigler: Bei den erwähnten Kosten in der Höhe von 230 Millionen Franken handelt es sich ausschliesslich um die direkten Kosten. Es sind die Gelder, die von den Betrieben und den Arbeitnehmenden zusätzlich in die Erwerbsersatzkasse einbezahlt werden müssen. Das ist aber nicht einmal die halbe Wahrheit. Eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene Studie hat kürzlich ergeben, dass jeder zusätzliche Urlaubstag indirekte Kosten zur Folge hat, die doppelt bis vierfach so hoch sind wie die direkten Kosten. Das heisst, dass die jährlichen Gesamtkosten irgendwo zwischen 700 und 1150 Millionen liegen. Dies ist selbst in konjunkturell guten Zeiten eine erhebliche Belastung. In Krisenzeiten wie der jetzigen ist es aus meiner Sicht schlicht unverantwortlich, eine neue, teure Sozialversicherung einzuführen. Die Arbeitslosigkeit steigt seit Ausbruch der Corona-Krise kontinuierlich an. Viele Betriebe kämpfen tagtäglich ums Überleben. Jede Zusatzbelastung ist unbedingt zu vermeiden. Sichere Arbeitsplätze für viele sind deutlich mehr wert als zusätzliche Kurzurlaube für wenige. Deshalb sage ich Nein zum teuren Vaterschaftsurlaub.

Aversa: Wir haben in der Schweiz rund 80 000 Geburten pro Jahr und ebenso viele Neu-Väter, die davon profitieren würden. Unser Staat unterstützt die Wirtschaft, warum also investiert man nicht auch mehr in Familien?

Nationale Vorlage: Änderung des Erwerbsersatzgesetzes

Darum geht es: Bei der Geburt eines Kindes hat die Mutter heute Anrecht auf 14 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub. Für Väter besteht kein im Bundesrecht geregelter Anspruch auf einen Vaterschaftsurlaub. Es gibt in der Regel höchstens einen oder zwei Tage. Die Vorlage zur Änderung des Erwerbsersatzgesetzes ist ein indirekter Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament zur Volksinitiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub – zum Nutzen der ganzen Familie». Diese verlangte einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub für alle erwerbstätigen Väter. Mit dem Gegenvorschlag legen Bundesrat und Parlament eine Regelung für einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub vor, dank der der Vater sich an der Betreuung seines Kindes beteiligen und die Mutter entlasten kann. Der Vaterschaftsurlaub wird gleich entschädigt wie der Mutterschaftsurlaub: Die Entschädigung beträgt 80 Prozent des Erwerbseinkommens, höchstens aber 196 Franken pro Tag. Finanziert wird sie über die Erwerbsersatzordnung. Bundesrat und Parlament sind der Ansicht, dass der Vaterschaftsurlaub auch für kleinere und mittlere Unternehmen finanziell tragbar ist. Ein Komitee hat gegen diese Vorlage das Referendum ergriffen.

Im «Tagblatt» vom 9.9. führen Christian Jaques, Präsident Verein Jagd Zürich, und Andreas Hasler, Geschäftsleiter von Pro Natura Zürich, ein Pro- respektive Contra-Interview über die Revision des Bundesgesetzes über die Jagd und den Schutz wildlebender Säugetiere und Vögel (JSG).

 

 

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