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Interview

Suizide: Wenn die Sonne schwer zu ertragen ist

Von: Clarissa Rohrbach

28. Januar 2014

Todesfälle auf Bahngleisen häuften sich in letzter Zeit. Täglich sterben in der Schweiz vier Personen durch Suizid. Prof. Dr. med. Heinz Böker leitet das Zentrum für Depressionen, Angsterkrankungen und Psychotherapie. Er hat ­Erfahrung mit der Behandlung von Patienten, die Suizidversuche hinter sich haben, und weiss, wie es so weit kommt.

Herr Böker, löst der Winter mehr ­Suizidgedanken aus?

Heinz Böker: Die Witterung hat mit diesen Gedanken nichts zu tun, das ist ein verbreiteter Trugschluss. Für suizidale Menschen ist eher der Sonnenschein schwer zu ertragen, wegen der Diskrepanz zwischen Befinden und Aussenwelt.

Man sagt, wer von Suizid spreche, schreie nur nach Hilfe und würde sich nicht wehtun.

Jede Äusserung zum Suizid ist ernst zu nehmen. Es ist wichtig, dass Angehörige nicht wegschauen, sondern auf die Signale hören. Der Betroffene zeigt, dass er das Leben als nicht mehr lebenswert empfindet, er leidet oft unter Schlaf-, Appetit- und Antriebsstörungen. Hegt man Verdacht auf suizidale Gedanken, sollte man das Thema ansprechen. Gehört zu werden, wirkt befreiend und hilft.

Jeder zweite Schweizer hat bereits darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Ist das normal?

Ja, dieser Gedanke ist Teil der menschlichen Existenz und eine Art der Verarbeitung seelischen Schmerzes. Der Suizid präsentiert sich als eine paradoxe Lösung, durch die man in einem letzten Akt der Selbstbestimmung das eigene Leben in die Hand nimmt. Nicht selten kommt der Gedanke in einer Situation starker Abhängigkeit und ist ein Signal dafür, dass man vom Leid erschöpft ist.

Suizidgedanken sind bei jungen Menschen häufiger. Leiden diese mehr?

In jungen Jahren fühlen sich Menschen von einer Enttäuschung überwältigt. Das Zeitempfinden ist anders als im Alter. Junge denken, die Situation könne nie mehr besser werden, die Sicht ist radikaler, hoffnungsloser.

Und doch findet sich die höchste ­Suizidrate bei älteren Personen.

Im Alter verändern sich die Lebensumstände, oft leiden die Betroffenen unter Erkrankungen. Der Suizid wird bewusst abgewogen. Man entscheidet, wie viel man noch bereit ist zu ertragen.

Also muss der Suizidgedanke nicht unbedingt mit einer Depression einhergehen?

In 90 Prozent der Fälle tut er das. Äus­sere Umstände sind zwar die Auslöser für den Suizidversuch, doch der Gedanke hat meistens eine lange Vorgeschichte. Wer depressiv ist, fällt in ein negatives Denkmuster, das sich automatisiert, wenn es nicht behandelt wird. Zu 75 Prozent wird die Depression von einem Verlust ausgelöst.

Sind einige Menschen besonders anfällig?

Um eine Frustration zu verarbeiten, braucht es ein gutes Selbstwert­gefühl. Dieses entwickelt sich, wenn jemand von seinen Bezugspersonen geliebt wurde. Wer hingegen emotionale Entbehrung erlebt hat, der hat mehr Mühe, mit Verlust umzugehen.

Haben deswegen auch Verheiratete weniger solche Gedanken?

Beziehungen schützen natürlich.

Jährlich nehmen sich in der Schweiz 900 Männer und 400 Frauen das Leben. Wieso ist das Phänomen eher männlich?

Depressionen kollidieren weniger mit dem Rollenbild der Frauen. Diese sind sich eher gewohnt, mit diesen Gefühlen umzugehen. Für einen Mann ist eine Depression ein Zeichen von Schwäche. Er reagiert aggressiv darauf.

Die Stadt Zürich weist eine höhere Suizidrate auf als die ländlichen Gemeinden. Sind Städter besonders unglücklich?

In der Stadt leben mehr marginalisierte Menschen, auf dem Land ist der Zusammenhalt der Familie meistens stärker. Allerdings wird das Thema in urbanen Gegenden offener angegangen, während es an konservativen Orten tabuisiert wird.

Wieso ist Suizid immer noch ein Tabu?

Es steht im Konflikt zur Idealvorstellung eines erfolgreichen Lebens in der modernen Leistungsgesellschaft. Wir sind umringt von Fiktionen von erfolgreichen Kämpfern. Zuzugeben, dass kein Überlebensinstinkt mehr vorhanden ist, gehört sich nicht.

Der Bund investiert jährlich 20 Millionen Franken für die Prävention von Verkehrsunfällen. Für Suizid sind es 0,1 Millionen. Dies, obwohl viermal mehr Menschen auf diese Weise sterben. Kann die Gesellschaft mehr gegen den Freitod unternehmen?

Es braucht mehr Information, damit sich die Angehörigen mehr mit dem Thema auseinandersetzen. Zudem können noch mehr Präventionsmassnahmen umgesetzt werden: Sprungstellen mit Netzen ausrüsten sowie die Zugänglichkeit von Gleisen und Schusswaffen erschweren.

Kann man mit Zuneigung eine Person vor dem Suizid retten?

Emotionale Resonanz zu zeigen, ist sicher wichtig.

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