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Interview

Thea und Amy Bollag in ihrem Garten in Zürich-Friesenberg. Das gerahmte Foto zeigt das Paar 1952, im Jahr ihrer Hochzeit. Nur drei Monate zuvor hatten sich die beiden kennen gelernt. Bilder: Nicolas Zonvi 

Verschmolzene Seelen

Von: Jan Strobel

16. Juli 2019

Der 95-jährige Illustrator Amy Bollag, dessen Zeichnungen und Texte auch im «Tagblatt der Stadt Zürich» erscheinen, ist seit 67 Jahren mit seiner gleichaltrigen Frau Thea verheiratet. Ihre Liebe speist sich auch aus einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit. Ihre Beziehung, sagt Amy Bollag, sei wie ein Schatz, zu dem sie immer Sorge tragen.

Wie begann Ihre Liebesbeziehung, wo haben Sie sich kennen gelernt?
Thea Bollag: Um das verstehen zu können, muss ich zuerst etwas ausholen. Als ich Amy kennen lernte, hatte meine Familie eine lange Fluchtgeschichte hinter sich. Zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder waren wir 1938 vor den Nationalsozialisten aus dem tschechischen Marienbad, wo wir eigentlich nur Ferien verbringen wollten, zuerst nach Prag geflüchtet, dann mit dem Flugzeug nach Belgien, schliesslich ging die Odyssee weiter nach Nizza in Südfrankreich. Aber die Deutschen hatten noch nicht genug. Mit dem Auto flohen wir nach Spanien und fanden am Ende in Lissabon einen sicheren Hafen. Vom Vater wurden wir getrennt. Er lebte dann in London und verstarb auch dort. Nach dem Krieg besuchten wir die Schweiz. Amys Onkel leitete damals in Celerina ein Kinderheim, und wir stiegen im Hotel Kulm in St. Moritz ab. Ich sass im Speisesaal, als ich Amy zum ersten Mal sah.

Amy Bollag: Ich hatte meinen Schäferhund Rolfi dabei, und plötzlich bietet mir dieses Meitli den Platz neben sich an. «Sie können sich hierher setzen», hat sie gesagt. So kamen wir ins Gespräch.

Was war Ihr erster Eindruck voneinander, was zog Sie besonders an in diesem Moment?
Amy Bollag: Thea sprach mit sächsischem Dialekt, sie kam ja ursprünglich aus Leipzig. Ich habe diesen Dialekt geliebt. Es stellte sich heraus, dass wir den gleichen Jahrgang haben, Thea ist nur drei Tage jünger als ich. Ich war sofort absolut begeistert. Mir gefiel einfach alles an ihr, von den Fingernägeln bis zum Kopf. Ich bewunderte diese Frau, und das ist bis heute so geblieben.

Thea Bollag: Amy war ein hübscher junger Mann und sehr freundlich. Auch sein Hund mochte mich. Ich glaube, dass Rolfi unser Vermittler war.

Amy Bollag: Wir mussten uns wenig später in St. Moritz verabschieden. Wäre Thea damals gleich wieder zurück nach Lissabon gereist, wäre die Geschichte wohl nur ein momentaner Blitz gewesen . . .

Thea Bollag: . . . aber dann wurde meine Mutter krank, und wir fuhren weiter nach Zürich.

Und hier trafen Sie sich wieder?
Amy Bollag: An der Lavaterstrasse fand ein Markt statt. Dort lief mir Thea wieder über den Weg. Nach diesem Wiedersehen verabredeten wir uns im Café Schlauch im Niederdorf. Wir waren jung und verliebt und beschlossen, einen gemeinsamen Weg gehen zu wollen. Noch in Zürich verlobten wir uns. Das gefiel natürlich nicht allen in der Familie. Eine Tante äusserte Bedenken. Sie fand, Thea sei zu verwöhnt und deshalb nichts für mich.

Thea Bollag: Und Amy hielt sie für einen verträumten Künstler. Auch mein Bruder war gegen die Verbindung. Aber darum kümmerten wir uns nicht. Drei Monate später kam Amy nach Lissabon.

Amy Bollag: Sie hatte mir vorher in die Schweiz geschrieben: «Wenn du nicht kommst, halte ich nicht durch.» Da wusste ich, dass wir jetzt handeln mussten. Theas Familie hatte ja bereits mit dem Gedanken gespielt, nach New York überzusiedeln.

1952 heirateten Sie in Lissabon, trotz Bedenken aus den Reihen der Familie. Wie erlebten Sie diesen Tag?
Amy Bollag: An der Hochzeit waren 300 Gäste geladen, von denen ich nur die wenigsten kannte. Ich musste einen Stresemann tragen und kam mir darin kostümiert vor, wie ein Kasperli. Aber dann hätten Sie Thea sehen sollen, als sie irgendwann den Schweizer Pass in den Händen hielt und ihre Flüchtlingspapiere endlich los war: Sie strahlte wie ein Stern vom Himmel.

Wie gestaltet sich eigentlich die Rollenverteilung in Ihrer Beziehung?
Thea Bollag: Amy hat mich immer auf Händen getragen, von Anfang an – und er tut es noch heute.

Amy Bollag: Thea musste sich um nichts kümmern. Ich kaufte ihr Kleider, habe auch im Haushalt ganz selbstverständlich mitgeholfen. Ich verrichtete in den Anfangsjahren harte Arbeit im Futtermittelhandel, aber ich verzichtete auf das Mittagessen oder den Zvieri, damit ich genug Geld beisammenhatte, um ihr Schmuck kaufen zu können und später den Kindern Spielzeug. Als wir eine Familie wurden, hat sich das Leben geregelt, es ging auch finanziell bergauf. Wir treffen alle Entscheidungen gemeinsam, gehen zusammen durch alle Lebenslagen. Ich war zum Beispiel bei jeder Geburt unserer Kinder dabei, das war damals noch nicht üblich für Väter. Zwei Ärzte sagten mir unabhängig voneinander: «Herr Bollag, Sie haben mitgeboren!»

Wie veränderte sich Ihre Ehe, als Sie Eltern wurden?
Amy Bollag: Das hat uns komplett verändert. Auf einmal merkten wir, was es heisst, eine ­Familie zu sein.

Thea Bollag: Wir spüren noch heute eine grosse Dankbarkeit. Als unser erster Sohn geboren wurde, das war ein unbeschreibliches Glück.

Können Sie diese Dankbarkeit beschreiben?

Amy Bollag: So viele unserer Verwandten wurden im Holocaust ermordet. Wir empfinden es als unglaubliche Gnade, dass wir überlebt haben. Thea, die mit ihrer Familie geflohen ist, und ich, der ich in diesem kleinen «Eggli» Schweiz aufgewachsen bin, während um mich herum die Welt versank. Daraus speist sich diese Dankbarkeit. Dass wir eine Familie sein, als Familie leben können, ist etwas, das unseren Verwandten nicht gegönnt war. Gerade deshalb war und ist unsere Beziehung ein enormer Schatz, zu dem wir Sorge tragen müssen.

Gab es in Ihrer 67-jährigen Ehe nie Ermüdungserscheinungen, einen Überdruss vielleicht? Wie tragen Sie Konflikte aus?
Amy Bollag: Es gab in all diesen Jahren nie Zweifel an unserer Liebe zueinander. Thea kann manchmal ziemlich harte Worte benützen, aber ich war ihr nie böse deswegen. Ich habe immer «die Fünf gerade sein lassen», wie man sagt. Thea meint immer: Meine Einfachheit ist fast schon kompliziert.

Thea Bollag: So einen Mann müssen Sie zuerst einmal finden.

Amy Bollag:
Schon als ich Thea damals im Hotel Kulm kennen lernte und wir uns verliebten, wusste ich: Diese Frau werde ich um keinen Preis in der Welt wieder hergeben.

Was meint Liebe für Sie?
Thea Bollag: Dass wir geistig miteinander verschmolzen sind.

Amy Bollag: Das stimmt. Liebe meint so sehr das geistige Wesen eines geliebten Menschen. Ich muss zuerst mit dem Geist, der Seele zusammenkommen. Das Körperliche, die Sexualität, das kommt erst an zweiter Stelle.

Als Illustrator und Zeichner haben Sie auch Hunderte von Bildern Ihrer Frau angefertigt. Wo fangen Sie jeweils an, wenn Sie Thea zeichnen?
Amy Bollag: Heute sehe ich leider nicht mehr so klar wie früher. Das Illustrieren fällt mir mittlerweile schwer. Aber wenn ich Thea zeichnete, dann fing ich immer bei ihren Haaren an. Sie hat immer so schöne Haare. 

Gut zu wissen: Thea und Amy Bollag

Amy Bollag wurde am 12. Juli 1924 in Baden geboren. 1945 begann er ein Studium an der Kunstgewerbeschule Zürich und hatte schon früh Aufträge als Zeichner und Grafiker für Werbeprospekte oder Schaufenster. Daneben arbeitete er im Getreide- und Futtermittelhandel. Ab Ende der 60er-Jahre führte Amy Bollag seine eigene Getreidehandelsfirma und etablierte sich auch als Zeichner. Berühmt wurde die Figur des Wisel im «Einsiedler Anzeiger», die er 34 Jahre lang zeichnete – die längste ununterbrochen erscheinende Karikatur-Serie der Schweiz. 2017 erschien die letzte Folge. Bis heute erscheinen seine Zeichnungen und Texte in der «Aargauer Zeitung» und im «Tagblatt der Stadt Zürich». 1999 erschien sein Buch «Die Zeit angehalten» mit illustrierten Kurzgeschichten.

Thea Bollag, geborene Schächter, wurde am 9. Juli 1924 in Leipzig geboren. Thea und Amy Bollag haben drei Söhne, neun Enkel und sieben Ur-Enkel. Das Paar lebt seit bald 40 Jahren in einem Reihenhaus im Stadtquartier Friesenberg.

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