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Interview

Miriam Maertens: «Verschieben wir es auf morgen – Wie ich dem Tod ein Schnippchen schlug», Ullstein Leben, Oktober 2018. Bild: Robin Hinsch

Von hier bis zum nächsten Baum

Von: Stine Wetzel

16. Oktober 2018

Die Ärzte sagten, sie werde keine fünf Jahre alt – heute ist Miriam Maertens 48. Darüber, wie sie es geschafft hat, mit ihrer Lungenkrankheit und den dunklen Prognosen zu leben, hat das Ensemblemitglied des Schauspielhauses Zürich nun ein Buch geschrieben: «Verschieben wir es auf morgen».

Ihre erste Fernreise machte sie mit 44: ein Gastspiel mit der Schauspielhaus-Produktion «Die Physiker» in Shanghai. Vorher durfte Miriam Maertens nicht fliegen, konnte nicht fliegen. Die heute 48-Jährige wurde mit der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose geboren, ein Gendefekt, der zu Schleimbildung führt und in Maertens’ Fall die Lunge betraf. Die Mukoviszidose verstopfte ihr die Bronchienäste. Für sie bedeutete das: ständige Atemnot, Infusionen, Antibiotika, Inhalation, drei Stunden Therapie pro Tag, Rückschläge, Tage am Sauerstoffgerät, mit 42 eine Lungentransplantation. Viele Betroffene erreichen heute ein Lebensalter von über 40 Jahren, lange wurde die Krankheit aber falsch behandelt, und die Forschung ist erst in den letzten Jahren in die Gänge gekommen. Maertens hat versucht, sich die Krankheit vom Leib zu halten, so gut es eben ging, Inhalieren wie Zähneputzen zu behandeln. Als Kind der bekannten Hamburger Schauspielerfamilie Maertens, die mit dem Thalia-Theater verbunden ist, zog es sie ebenfalls auf die Bühne. Seit 13 Jahren ist sie festes Ensemblemitglied des Schauspielhauses Zürich. Viele Jahre schaffte sie die Vorstellungen nur, wenn sie in den Pausen inhalierte – zumeist unbemerkt.

Sie haben jahrzehntelang mit Mukoviszidose gelebt, warum schrieben Sie das Buch jetzt?

Miriam Maertens: Nach der Transplantation wollte ich das, was ich erlebt habe, weitergeben, ein Buch für andere Patienten und Eltern mit kranken Kindern schreiben. Aber nicht jeder Satz handelt davon, dass ich keine Luft bekomme. Klar, es geht um Mukoviszidose, aber auch um eine Familiengeschichte. Ein Krankheitsbuch wollte ich nicht, davon gibt es schon genug.

Sie haben Ihre Krankheit nie zum Thema gemacht, aber jetzt, da Sie das Buch geschrieben haben, sind Sie ständig damit konfrontiert. Wie ist das für Sie?

Für mich ist es eine Art Mission, deshalb stört es mich nicht. Ich fände es schön, wenn andere denken: Guck mal, die hat auch Mukoviszidose, sie hat das 42 Jahre lang geschafft, übt ihren Beruf aus, hat einen 17-jährigen Sohn. Mich hätte so ein Buch beruhigt, auch in Hinblick auf die Transplantation.

Ist der Titel «Verschieben wir es auf morgen» ein Zitat aus «Vom Winde verweht»?

Total. Ich habe Scarlett so geliebt, diese starke Figur, die sagt: «Ich will nicht darüber nachdenken, ich kann nicht darüber nachdenken, verschieben wir es auf morgen.» So haben wir es in der Familie auch mit den bösen Prognosen der Ärzte gehalten: zu sagen «Jetzt ist es ja noch nicht so weit».

Wie konnten Sie sich gegen die Krankheit auflehnen?

Ich habe mich mit Händen und Füssen dagegen gewehrt, dass auf meiner Stirn steht «Ich bin krank». Ich habe einen guten Körperinstinkt, alles gemacht, wonach ich mich gefühlt habe. Etwa als Kind Fahrrad fahren wie meine beste Freundin – obwohl die Ärzte damals zum Schonen geraten haben. Mit 17, 18 sass ich bis 5 Uhr morgens bei den Feiern im Thalia-Theater in Hamburg, um mich herum haben sie alle geraucht – eigentlich ist es verrückt sich mit einer Lungenkrankheit so zuqualmen zu lassen. Aber ich brauchte das: gute Erlebnisse sammeln, um in schlechten Zeiten davon zu zehren. Meine Eltern haben das toll hinbekommen, die Waage zwischen Mich-Beschützen und Mich-Lassen zu halten.

Aber wie haben Sie es geschafft, zu verstecken, wenn es Ihnen schlecht ging?

Ich wollte es um keinen Preis nach aussen tragen, meine Kollegen nicht belasten, sondern zum Schauspielhaus kommen, arbeiten, proben – ganz normal. Es gab schon Leute im Theater, die von meiner Lungenkrankheit wussten, aber auch jene, die es nicht wussten. Manchmal wundere ich mich selbst, wie ich es geschafft habe, zu spielen. Ich erinnere mich daran, wie ich diese riesige Rolle hatte (in Elfriede Jelineks «FaustIn and out», Anm. d. Red.), unten im Keller, und bei Frau Jelinek heisst es auch noch: «Aber atmen müssen sie alle. Das habe ich überprüft. Man kann ihnen das Essen abdrehen, aber nicht die Luft.» Wenn du das sagst, während du eigentlich selbst keine Luft mehr bekommst, ist das eine ganz schöne Groteske. Das war der Punkt, an dem ich wirklich nicht mehr spielen konnte.

Dann entschieden Sie sich für die Transplantation?

Bis zu dem Moment hatte ich Todesangst vor der Transplantation. Die Lunge ist ein so grosses Organ, und die Geschichte der Transplantation hat sich erst in den letzten Jahren so weit entwickelt. Mit 11 Jahren kam ich zu tollen Ärzten in München – wenn ich die nicht kennen gelernt hätte, wäre ich wohl mit 14 gestorben, sie haben mir das erste Mal einen richtigen Therapieplan gegeben – die sagten mir: «Vergiss alle Werte. Wenn du nicht mehr von hier bis zum nächsten Baum laufen kannst, dann ist es Zeit zu transplantieren. Vorher nicht.» Daran habe ich mich geklammert – und sicher zu lange gewartet. Als ich wirklich, wirklich nicht mehr spielen konnte, mit 42, unterschrieb ich für die Transplantation, und vier Wochen später, auf den Tag genau, hats geklappt. Ein echtes Wunder.

Und dann war auf einen Schlag alles gut?

Heute ist es wie ein neues Leben für mich. Es ist ein unglaubliches Glück, dass es mir jetzt so gut geht, dass mein Körper mit dem fremden Gewebe umgehen kann. Ich habe eine ungeheure Dankbarkeit, auch dem Spender gegenüber. Aber die Transplantation selbst war eine übermenschliche Operation. Was du danach durchmachst, ist die Hölle, ich war auf einmal in einem uralten Körper. Ich kann wirklich viel vertragen, aber das geht schon an die äussersten Grenzen. Zum Glück hatte ich meine Familie, ohne sie hätte ich das nicht geschafft.

Buchvernissage und Lesung mit Livemusik von Jojo Büld: Samstag, 27. Oktober, 19.30 Uhr, Pfauen/Kammer, Eintritt frei.

Das «Tagblatt» verlost 2 Exemplare von Miriam Maertens’ «Verschieben wir es auf morgen». Senden Sie uns eine E-Mail mit Namen, Adresse, Telefon und Betreff Maertens an: gewinn@tagblattzuerich.ch

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