mobile Navigation

Lifestyle

Buchautor Linus Reichlin.

Die Stadt, die Liebe und andere Sorgen

Von: Isabella Seemann

03. März 2015

Das Tagblatt stellt zwei Neuerscheinungen und eine Wiederauflage vor, über die man in der Stadt spricht.

Kurt Guggenheim: Werke VIII, «Gerufen und nicht gerufen» / «Nachher», 2014, ­Huber-Verlag, 43.90 Fr.

So populär und kommerziell erfolgreich wie Charles Lewinsky wurde Kurt Guggenheim (1896–1983) seinerzeit nicht, obgleich auch er Drehbücher für beliebte Filme schrieb («Wachtmeister Studer», «Gilberte de Courgenay») und seine jüdische Saga «Alles in Allem» mit Preisen bedacht wurde wie «Melnitz». Verleger Charles Linsmayer hat es sich jedoch zur Aufgabe gemacht, Guggenheims fast vergessenes Œuvre wieder ins literarische Bewusstsein der Zürcher zu rücken, und es ist zu hoffen, dass diese es honorieren. Der achte und vorläufig letzte Band der Werkausgabe Guggenheims enthält den Roman «Gerufen und nicht gerufen» und vier Erzählungen. Sein Titel ist eine Hommage an den Psychiater C. G. Jung, der den Orakelspruch über seinem Hauseingang angebracht hat. Der melancholische Roman beginnt am Tag des Waffenstillstands 1945 und erzählt die Geschichte Zürichs der Nachkriegszeit anhand zahlreicher Figuren, darunter auch prominenter Persönlichkeiten, auf äusserst einprägsame Weise. Im Erscheinungsjahr 1973 warb der Verlag für das Buch mit dem Satz «Das Geschenkbuch für alle, die Zürich lieben». Und das gilt auch heute noch.

Das Literaturmuseum Strauhof zeigt bis 31. Mai die Ausstellung über Kurt Guggenheim und sein Werk «Alles in Allem». www.guggenheim-ausstellung.ch

Sibylle Berg: «Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand», Verlag Hanser, Februar 2015, 28.90 Fr.

 

Vor diesem Moment fürchten sich alle glück­lichen Paare: Plötzlich tritt eine dritte Person in die Beziehung. Lohnt es sich, ­dafür die Ehe aufzugeben? Um diese Frage dreht der neue Roman der Zürcher Autorin Sibylle Berg – und wie gewohnt, deutet sie das Pärchenleben mit verstörender Ernsthaftigkeit und zugleich mit virtuoser Ironie aus. Chloe und Rasmus sind Mitte vierzig, seit gut zwanzig Jahren zusammen, kinderlos, Sex war nie wichtig, man mag sich und lacht viel gemeinsam, beide machen was mit Kultur, man verkehrt unter seinesgleichen, aber das kann ja nicht alles gewesen sein. Doch «die einzige Hoffnung auf Veränderung kommt aus dem Genitalbereich». Chloe lernt während eines Kulturprojekts in Afrika den Masseur Benny kennen und holt ihn nach Hause in die gemeinsame Wohnung. Rasmus hört ihnen beim Sex zu und leidet mehr oder weniger stumm, weiss aber zugleich, dass er selbst keine demütigenden Neuanfangsversuche auf Datingplattformen im Internet will. Schliesslich kommt es doch noch zu einer Konfrontation. Ein rundum pessimistisches Buch, das jedem Misanthropen ausgesprochen gute Laune macht.

Buchtaufe, Lesung und Performance: 10. März, 20 Uhr, im Kaufleuten mit ­Sibylle Berg, Patrick Frey und Fai Baba.

Linus Reichlin: «In einem anderen ­Leben», Verlag Galiani, 28 Fr.

Familie als Terrorgemeinschaft, ein steter Quell für schwerste psychische Deformationen, die kleine Hölle in den eigenen vier Wänden – Familientragödien liefern von jeher Stoff für Literatur. «Manche Leute, wenn sie Pech haben, verbringen ein Leben damit, ihre Eltern kennen zu lernen», protokolliert Luis, Sohn reicher, schöner, gebildeter Eltern, der Vater Deutschschweizer Zahnarzt, die Mutter Tessinerin. Sie lieben und sie hassen sich, der Whisky fliesst, die Teller fliegen. Sie verwechseln sich mit Eliza­beth Taylor und Richard Burton, nur dass die Mutter nicht wie die Taylor acht weitere Männer heiratete, sondern in der ersten Ehe stecken bleibt.

Ein Autounfall setzt dem Ehekrieg ein Ende. Die Mutter wird zum Pflegefall. Ihre einzige Verbindung zur Aussenwelt ist ein Gemälde eines holländischen Meisters, das sie stundenlang betrachtet. Luis verlässt das bedrückende Elternhaus und begegnet Jahrzehnte später ebendiesem Bild wieder. Der in Berlin lebende Zürcher Autor Linus Reichlin hat bislang Krimis geschrieben, die durch wunderliche Ideen, philosophische Betrachtungen und stille Spannung gefielen. Und so hält es Linus Reichlin auch mit seinem Familiendrama.

zurück zu Lifestyle

Artikel bewerten

Gefällt mir ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Keine Kommentare