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Selbstbildnis von Augusto Giacometti (Öl auf Leinwand).

Im bunten Paradies des grossen Farbmeisters

Von: Isabella Seemann

16. Februar 2021

Kunst: Er stand stets im Schatten seines weltberühmten Verwandten Alberto Giacometti: Doch Augusto Giacometti prägte Zürich wie kein anderer Künstler. Und Zürich prägte ihn, wie seine Tagebücher zeigen. 

Nichts weniger als dem lieben Gott Konkurrenz machen wollte Augusto Giacometti (1877–1947), als er um die vorletzte Jahrhundertwende begann, Tupfen und Flecken in dichten Farben auf Papier und Leinwand zu bannen. Ein Wettbewerb der Stadt Zürich, den er als unbekannter und arbeitsloser Maler 1922 gewann, verhalf ihm zum Durchbruch: Mit seinen leuchtend roten, gelben und orangefarbenen floralen Sujets schuf er einen Raum mit royaler Ausstrahlung im ehemaligen Kellergewölbe des städtischen Waisenhauses am Bahnhofquai, das seinerzeit zum Amtshaus I der Stadtverwaltung umgebaut wurde. Heute gilt das spektakuläre Eingangsfoyer zur Regionalwache City der Stadtpolizei Zürich als eines der bedeutendsten Kunstwerke der Schweiz – im Volksmund liebevoll «Blüemlihalle» genannt.

Zürich im Farbentaumel

Seine künstlerische Freiheit hat sich der Bergeller Bauernsohn aus dem kargen Bergdörfchen Stampa hart erkämpft, der Cousin zweiten Grades des Malers Giovanni Giacometti war und somit entfernt verwandt mit dessen Sohn, dem weltberühmten Bildhauer Alberto Giacometti. Gegen den Willen seines Vaters verliess Augusto das Gymnasium, um die Kunstgewerbeschule in Zürich zu besuchen. Studienaufenthalte in Paris und Florenz folgten. 1915 liess er sich in Zürich nieder und bezog in einem Dachstock der Denzlerhäuser an der Rämistrasse 5, vis-à-vis der Kronenhalle, sein Atelier, wo er bis zu seinem Tod seine zahlreichen Auftragswerke für Wandmalereien und Glasfenster entwarf und seine Bilder komponierte.

Sein späteres Werk entfernte sich zunehmend von der Abstraktion. Er malte bunte Blumenstillleben und Landschaftsbilder, die beim Publikum auf Begeisterung stiessen, ihm aber auch den Übernamen «Konfitüren-Giacometti» einbrachten. «Die Seele des Malers und des Bildes ist unbedingt das Farbige, die farbige Welt, die farbige Haltung», schrieb er am 31. Mai 1936 unbeirrt in sein Tagebuch. Zu diesem Zeitpunkt war Augusto Giacometti längst zu einem der begehrtesten Künstler der Schweiz avanciert. Doch nach seinem Tod geriet er ins Abseits. Nun rückt ihn der Verlag Scheidegger & Spiess mit der Publikation seiner Tagebücher wieder ins Scheinwerferlicht. Die Kunsthistorikerin Caroline Kesser hat die zwischen 1932 und 1937 notierten Hefteinträge transkribiert, mit zahlreichen, auch unbekannten Trouvaillen ausgestaltet und mit eigenen Recherchen bereichert.

Obgleich Augusto Giacometti in Zürich verewigt ist mit seinen Werken, unter anderem schuf er auch Glasfenster im Grossmünster, haderte er mit seiner Wahlheimat. Wenn er aus dem inspirierenden Venedig oder Paris zurückkehrte, liess er seiner Tristesse im Tagebuch freien Lauf. «Die Zwinglistadt frisst alles rasch auf und lässt nur die Knochen zurück, die Vernunft. Die trockene Vernunft.» Oder: «Zürich wirkt zuerst immer furchtbar nüchtern und leer. So gar keine Phantasie. Kein sich Gehenlassen. Keine Freiheit.»

Künstler-Tagebücher

Hg. Caroline Kesser: «Immer nur das Paradies – Augusto Giacometti – Die Tagebücher 1932–1937», Verlag Scheidegger & Spiess, Nov. 2020,
ISBN 978-3-85881-684-9

 

 

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