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Lifestyle

Wie blutig darf es denn sein?

Von: Isabella Seemann

29. März 2016

NEUE ZÜRCHER BÜCHER: Das «Tagblatt» stellt das Debüt eines abenteuerlustigen Uhrmachers vor und frische Werke von zwei alten Hasen.

Zum 70. ein Monster erschaffen

Charles Lewinsky: Andersen, Nagel & Kimche, März 2016, 30 Fr.

«Dunkel. Nicht das kalte, fugenlose Dunkel einer Zelle. Eine warme Dunkelheit. Ich weiss nicht, wo ich bin.» So beginnt «Andersen». So beginnt das neue Leben von Jonas, dem Icherzähler. Was der Leser erst langsam ­begreift: Jonas steckt noch im Mutterbauch. Doch wie kann ein Ungeborener wissen, wie sich Gefangenschaft anfühlt? Jonas erkennt, dass er schon einmal gelebt hat. Er war bis kurz vor der Niederlage seines Landes Verhör-, also Folterspezialist. «Ich war der Beste meines Faches», erinnert er sich stolz, was aber in seinem ­neuen Leben niemand wissen darf. Als sich der Sieg der anderen abzeichnete, wechselte er husch die Seite und nahm den Namen «Andersen» an. Flucht, Papiere, alles war vorbereitet für ein neues Leben. Ausgerechnet dieser Barbar, der bereits im alten Leben seine Haut hatte retten können, erhält nun also nochmals die Chance, von vorne zu beginnen. Eine verblüffende Idee, die Charles Lewinsky hier durchspielt: abgründig, erschreckend, hinterhältig. Denn der «Neue» ist noch ganz der «Alte». Jonas kennt keine Reue. Der Zürcher Autor Charles Lewinsky, der am 14. April seinen 70. Geburtstag feiert, hat eine scharfsinnige Parabel über das Böse geschrieben. Beklemmend, gleichzeitig geistreich. Ein höchst origineller Roman.

Lesung mit Charles Lewinsky: 14. April, 20 Uhr, Theater Rigiblick.

Eine Uhr schreibt Geschichte

Patrick Hohmann: Werenbachs Uhr, Bilger-Verlag, Okt. 2015, 34 Fr.

Als Patrick Hohmann auf seiner Lieblingsstrecke entlang des Werenbachs joggte, traf ihn der Geistesblitz: eine Uhr zu produzieren aus dem Material echter Weltraumraketen. Hohmann ist weder Uhrenmacher, noch Astronaut, sondern ein Ökonom, der als Markenspezialist arbeitete. Die Idee liess ihn nicht mehr los. Mittlerweile führt der 42-Jährige am Limmatquai 56 das Atelier ­Werenbach, wo er elf Uhrenmodelle in Kleinserien aus Raketenschrott herstellt, das aus Kasachstan stammt. Zwei Astronauten besitzen eine Werenbach – trugen sie sogar während eines Flugs ins All am Handgelenk. Und noch eine verrückte Idee hat Hohmann verwirklicht: Er schrieb einen Roman darüber. «Werenbachs Uhr» ist die abenteuerliche Geschichte eines Mannes, der gegen alle Widerstände seinen Traum in die Tat umsetzt. Die Reise führt ihn und seinen Freund, der nolens volens in das Abenteuer hineingezogen wird, unter extremen Wetterbedingungen per Bus in die Steppe Kasachstans, auf abgelegene Schotterwege, in unwirtliche Hotels. Zusammen versuchen sie in den militärischen Sperrgebieten im Umkreis des Kosmodroms Baikonur an die Wrackteile alter Sojus-Raketen zu gelangen und deren Transport in die Schweiz zu organisieren. Zuerst bekommt er von einem kasachischen Schrotthändler einen Koffer voll, dann einen ganzen Lastwagen. Zwei abenteuerliche Reisen nach Kasachstan und viele Rückschläge später tickt Werenbachs Uhr zum ersten Mal. Ein wunderbarer Roman, der einen von Abenteuerreisen im Weltall und auf Erden träumen lässt – und einem den Glauben an die Realisierbarkeit seiner Träume zurückgibt.

Kurzfutter aus Oerlikon

Franz Hohler: Ein Feuer im Garten, Luchterhand-Verlag, Okt. 2015, 23.90 Fr.

«Das Kurze. Das Einfache. Das Kindliche» hiess eines der Bücher von Franz Hohler. Diese Worte beschreiben das Werk des Oerliker Schriftstellers insgesamt treffend. Sie sind die Grundpfeiler seines Schreibens. Auch im neusten Büchlein «Ein Feuer im Garten» erzählt der 72-Jährige Kurz- und Kürzestgeschichten aus seinem ­Alltag, wie auch von seinen Lesereisen nach Dubai oder Teheran. Er legt den Fokus auf die kleinen Dinge und stellt die Beobachtungen so pointiert dar, dass für die Leser seine eindeutige Botschaft erkennbar wird. Manches wirkt moralinsauer und belehrend. Erzählungen von Fremdenfeindlichkeit («Multikulti») wirken allzu aufdringlich in ihrer weltverbesserischen Nettigkeit und Selbstgefälligkeit. Manches ist trivial («Frauen sind ein Rätsel»). Vieles ist gefällig: Schöne Wortspielereien, gelungene Bilder und geglückte satirische Untertöne. «Ja, und?», fragt sich der Leser. «Ist das alles?» Man vermisst die gedankliche Schärfe. Es fehlt jener Sinn fürs Unheimliche und Abgründige im Idyll. Leider ist auch kaum eine Geschichte überraschend. 

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