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Bergacker-Quartier in Affoltern: In den 408 Wohnungen leben rund 900 Personen. Die Siedlung soll abgerissen werden, zum Bedauern vieler Bewohnenden.

Affoltern im Abriss-Fieber

Von: Ginger Hebel

12. Oktober 2021

Verdichtung:  Affoltern verändert sich rasant. Neubauten entstehen, dafür müssen Siedlungen und Hochhäuser weichen. Mit dem Abriss verschwindet auch für die Bewohnenden der Lerchenhalde ein Stück Lebensgeschichte. 

Von oben hat sie den Überblick. Leonie Erdin sieht die Häuserdächer ihres Wohnorts Affoltern, den Katzensee, die ETH Hönggerberg – und an klaren Tagen sogar den Säntis. Seit 23 Jahren lebt die 89-Jährige im Hochhaus Lerchenhalde 20. In ihrem Reich im achten Stock fühlt sie sich sicher und aufgehoben. «Es ist ein wunderschönes Wöhnigli – und die beiden Fahrstühle im Haus sind ideal.» Ihre 2,5-Zimmer-Wohnung ist lichtdurchflutet. Den Laubengang hat sie all die Jahre mit Liebe bepflanzt, auf ihrem Balkon blühen bunte Blumen.

Mit ihrem Mann lebte sie über dreissig Jahre in einer Gartenwohnung in Zürich-Seebach. Als er starb, fühlte sie sich im Parterre nicht mehr wohl. 1998 zog sie nach Affoltern, ins Hochhaus Lerchenhalde. «Von ganz unten nach ganz oben – ein Glücksfall», sagt sie und lächelt. «Die Fernsicht ist gigantisch.» Lange kann sie diese nicht mehr geniessen. Die Baugenossenschaft Turicum hat mit dem Areal andere Pläne. Sie reisst das Hochhaus aus dem Jahr 1973 ab. Alle Mieterinnen und Mieter müssen per 31. März 2022 ausgezogen sein. «Für uns langjährige Mieter war das ein Schock. Viele von uns wären gerne für immer hier geblieben», sagt Leonie Erdin. Sie spricht vielen Nachbarn aus der Seele. Auch eine Totalrenovation hätten sie in Kauf genommen. «Warum immer alles abreissen?»

Im Mai 2019 verschickte die BG Turicum eine erste Mieterinformation. Nach Prüfung aller Optionen sei der Vorstand zum Schluss gekommen, einen Ersatzneubau einer umfassenden Überholung der Liegenschaft vorzuziehen. «Bei einer gesamtheitlichen, langfristigen und nachhaltigen Betrachtung fiel der Entscheid eindeutig zu Gunsten des Ersatzneubaus», sagt Urs Frei, Präsident der BG Turicum. Die Baugenossenschaft Hagenbrünneli kam bei ihrem benachbarten Grundstück zum selben Schluss. Gemeinsam planen die Genossenschaften eine Neubausiedlung mit drei Gebäuden an der Lerchenhalde mit 150 zeitgemässen Wohnungen für Studenten und Familien (Turicum) und ältere Menschen (Hagenbrünneli). Urs Frei verweist auch auf die geänderte Bauordnung. «Die Stadt Zürich wünscht eine viel dichtere Überbauung der Grundstücke auf Stadtgebiet. Als Genossenschaft, die dem gemeinnützigen Wohnungsbau verpflichtet ist, halten wir uns an diese Vorgaben.»

 

Leerkündigungen wegen Sanierung oder Neubau sind gemäss Mieterinnen- und Mieterverband in der Stadt Zürich ein zunehmendes Problem. «Die Zahl der Kündigungen ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Es ist bedauerlich, dass auch die beiden Baugenossenschaften nie ernsthaft geprüft haben, ob es Alternativen zum Ersatzneubau gibt oder das Bauvorhaben etappiert realisiert werden kann», sagt Walter Angst vom MV Zürich. Die älteren Mieterinnen und Mieter seien besonders stark betroffen. «Viele der jetzigen Bewohnenden der Lerchenhalde werden wegziehen, weil es für sie vor Ort kein Ersatzobjekt gibt. Sie verlieren nicht nur ihre Wohnung, sondern auch ihr Umfeld.»

Wegzug als Konsequenz

Das Ortsbild von Affoltern hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Neubauten schiessen wie Pilze aus dem Boden, in die Jahre gekommene Siedlungen wie der Bergacker sollen abgerissen werden. In den 408 Wohnungen leben rund 900 Personen. «Darunter zahlreiche ältere Menschen, die im Quartier keine so günstige Wohnung mehr finden», sagt Quartiervereinspräsidentin Pia Meier. Wie die Genossenschaft Habitat 8000 schreibt, entspreche die 1955 erstellte Siedlung Bergacker nicht mehr den heutigen Bedürfnissen und auch nicht den Anforderungen an nachhaltiges Wohnen. Zudem verunmöglichen die fehlenden Personenaufzüge den hindernisfreien Zugang zu den Wohnungen. Der Rückbau der bestehenden Siedlung soll frühestens im Jahr 2024 erfolgen und etappenweise durch Neubauten ersetzt werden. Auch beim Kronenhof-Areal am Zehntenhausplatz sind Abriss-­Pläne im Gespräch.

Pia Meier fordert zusammen mit Politikerinnen und Politikern von der Stadt und Genossenschaften sowie von Privaten, dass in Neubausiedlungen auch altersgerechte Wohnungen zu einem günstigen Mietzins entstehen. Für AL-Gemeinderat Andreas Kir­stein ist es keine gute Entwicklung, wenn Alterswohnungen verschwinden. «Natürlich können es nicht die Genossenschaften allein sein, welche den stadtweiten Mangel beheben müssen.» Er befürchtet, dass es den heutigen Bewohnenden des Bergackers ohne klare Vorgaben bezüglich Raumprogramm bei den weiteren Planungsschritten trotz etappierter Neubebauung kaum möglich sein wird, in eine neu erstellte Wohnung zu ziehen. Ob spezifisch Alterswohnungen mit Kostenmiete erstellt werden können, muss gemäss Stadtrat im weiteren Verlauf der Planung geklärt werden.

Das Wohnungsangebot im Bergacker soll durch die Ersatzneubauten wesentlich vielfältiger werden. «Neuerungen sind gut, sie müssen aber sozialverträglich sein. Auch die Durchmischung muss stimmen», findet Pia Meier. Gerade die ältere Generation dürfe bei der Planung nicht vergessen gehen. «Ältere Menschen haben sehr oft den Wunsch, selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden zu leben. Das ist auch das Ziel der städtischen Altersstrategie.»

Gefühl der Verdrängung

Pia Meier spürt derzeit vor allem Verunsicherung in der Quartierbevölkerung. «Viele Betroffene fühlen sich verdrängt. Eine offene Kommunikation und Unterstützung sind jetzt besonders wichtig.» Das Hochhaus Lerchenhalde wurde mit dem Grundgedanken erbaut, älteren Menschen bezahlbaren Wohnraum zu bieten. Zu Beginn lebten in den 1,5- und 2,5-Zimmer-Wohnungen ausschliesslich Betagte. Mit den Jahren zogen aber immer mehr Studenten der benachbarten ETH Hönggerberg ein. Noch immer wohnen im Hochhaus Menschen, die 70, 80 oder 90 Jahre alt sind. Die Genossenschaften Turicum und Hagenbrünneli haben der Mieterschaft Unterstützung bei der Wohnungssuche angeboten. Wie BG-Turicum-Präsident Urs Frei mitteilt, stehen 18 der 48 Wohnungen in der Lerchenhalde bereits leer. Vier Wohnungen sind durch die Mieter gekündigt. Zehn Wohnungen sind befristet bis 31.12.2021 vermietet. Die Bewohner aus sieben Wohnungen haben eine Frist-Erstreckung bis 31. März 2022 eingegeben. Die Mieter aus neun anderen Wohnungen haben bei der Schlichtungsbehörde Einsprache erhoben. Sie wollen den Abriss nicht kampflos hinnehmen. Für den Unmut der Mieter hat die BG Turicum wenig Verständnis. «Viele betrachten nur ihre eigene Sicht. Wir bemühen uns, alle Mieter nach ihren Bedürfnissen umzusiedeln, und wir werden auch niemanden auf die Strasse stellen», betont Urs Frei.

Einige Bewohnende haben sich fürs Alterszentrum entschieden, weil sie mit bald 90 nicht noch mehrmals umziehen wollen, so auch Leonie Erdin. Sie erzählt von einer Nachbarin, die aus dem Hochhaus in eine Parterrewohnung zieht. Ein betagtes Paar wechselt in eine Liegenschaft ohne Lift. Anderen Mietern wurde eine Genossenschaftswohnung beim Triemli angeboten, weit weg vom Quartier des Vertrauens.

Wehmut und Hoffnung

In wenigen Wochen bezieht Erdin im städtischen Alterszentrum Wolfswinkel ein 1-Zimmer-Appartement. Bett, Schrank, Stuhl. Für viel mehr bleibt am neuen Ort keinen Platz. Sie hofft, dass ihre Kinder, aber auch die Enkel und Urenkel sie auch dort regelmässig besuchen kommen. «Nicht, dass es wegen der Pandemie wieder Verschärfungen gibt und ich sie nicht mehr sehen darf.» Es fällt ihr nicht leicht, ihre Wohnung zu verlassen. «Mit dem Abriss verschwindet ja auch ein Stück Heimat für immer.» Doch Leonie Erdin hat den Entscheid akzeptiert und blickt hoffnungsvoll in die Zukunft. «Ich freue mich jetzt auf die neue Zeit im Wolfswinkel. Es kommt bestimmt gut.»

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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