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Die Wirtschaft Neumarkt im Zürcher Niederdorf schliesst am 23. Dezember nach 25 Jahren aufgrund eines Lärmstreits mit Theater und Stadt. Wirt René Zimmermann, seine Frau Inge Stoops und das ganze Team wollen in den kommenden Wochen nochmals mit Herzblut für ihre Gäste da sein. Bilder: GH

Alle Hoffnung fahren lassen

Von: Ginger Hebel

23. November 2021

Das Neumarkt-Team gibt nach 25 Jahren auf. Die Wirtschaft im Niederdorf schliesst am 23. Dezember aufgrund eines Lärmstreits mit Theater und Stadt. Stammgäste verlieren ein Stück Heimat. Auch die Zusammenarbeit mit über 100 Schweizer Produzenten endet. Diese Kontakte aufzugeben, tut Wirt René Zimmermann weh. 

Wirt René Zimmermann und seine Frau Inge Stoops sitzen am Holztisch im Turmzimmer, einem der Bankettsäle der Wirtschaft Neumarkt. Neben ihnen auf dem Boden Weihnachtsdekoration, Vasen, Weinflaschen. Erinnerungen aus einem Vierteljahrhundert Zürcher Restaurantgeschichte. Das Team gibt auf. Am 23. Dezember schliesst die Wirtschaft im Niederdorf. «Es schmerzt. Wir hätten uns eine Zukunft für unseren Betrieb gewünscht», sagt René Zimmermann. Im Januar werden Mobiliar, Küchen- und Serviceartikel liquidiert.

1978 startete Zimmermann seine gastronomische Laufbahn im selbstverwalteten Gastronomie- und Kulturbetrieb «Rössli» in Stäfa. Angetrieben von der Neugierde und der Liebe zum Produkt, wechselte er nach Winterthur ins Restaurant Strauss. 1993 setzte er in der «Alpenrose» in Zürich erstmals kompromisslos auf regionale Produkte und auf die besten Winzerinnen und Winzer der Schweiz. Drei Jahre später übernahm er mit vier Partnerinnen und Partnern die Wirtschaft Neumarkt. Die Liegenschaft im Dörfli befindet sich seit 1932 im Besitz der Stadt Zürich.

«Das war ein Glücksfall», resümiert Zimmermann. Ihm wurde die Chance geboten, die Zukunft des Hauses aktiv mitzugestalten. Der gelernte Maurer und Sozialarbeiter machte daraus eine Beiz, die seine Handschrift trägt. Er bepflanzte den Kiesgarten mit den alten Rosskastanien nach seinem Geschmack, kaufte erlesenes Mobiliar, entrümpelte die geschichtsträchtigen Räume. In Zusammenarbeit mit der Stadt und der Denkmalpflege legte er Bollensteinwände frei. Den Bankettsaal mit den Malereien verwandelte er in den ersten rauchfreien Raum weit und breit. Die Böden, aus breiten Tannenbrettern, hat er eigenhändig mit Espresso und schwarzen Farbpigmenten gepflegt, damit sie schön altern. «Mich interessiert die Geschichte eines Lokals. Die alte Bausubstanz lag mir immer am Herzen.» Die kleine Café-Bar richtete er im Art-déco-Stil ein. «Viele Leute kommen mehrmals am Tag vorbei, sie haben hier ein Stück Heimat gefunden», sagt Inge Stoops.

Dass die Wirtschaft Neumarkt nach 25 Jahren schliesst, ist für Stammgäste nicht nachvollziehbar. «Sie sind enttäuscht und wollen es noch nicht wahrhaben.» An mangelndem Umsatz liegt es nicht, das Lokal war mittags wie abends stets gut besucht, der Sommergarten eine Stadtoase. «Ohne Mietreduktion der Stadt Zürich und Härtefallgeldern hätten wir während der Pandemie aber wohl Konkurs gemacht.»

Keine Bankette wegen Lärm

Dem Entscheid zur Schliessung geht ein Lärmstreit voraus, der Nerven kostete und Kraft. Über den Banketträumen befindet sich seit 1966 das Theater Neumarkt. Die Lärmimmissionen hätten seit dem Direktionswechsel im Jahr 2019 enorm zugenommen und einen ordentlichen Bankettbetrieb verunmöglicht, weshalb René Zimmermann und sein Team ihn diesen Herbst einstellten. In den Sälen wurden Taufen gefeiert, Hochzeiten und Geburtstage. Familien und Vereine frönten dem Kultur- und Trinkgenuss. Seit dem Sechseläuten 1956 ist das Zunfthaus am Neumarkt Sitz der Zunft Hottingen. «Sie ist stolz, Gegenwart und Zukunft der historischen Liegenschaft mitgestalten zu dürfen. Während der vergangenen 65 Jahre hat die Zunft diverse Pächter der Wirtschaft Neumarkt erlebt, zuletzt René Zimmermann, der die Gastronomie im Neumarkt prägte. Wir bedauern seinen Entscheid, den Pachtvertrag frühzeitig zu beenden», sagt Zunftmeister Marcus A. Gretener.

Für das Neumarkt-Team macht es keinen Sinn, die Wirtschaft mit 80 Plätzen und 200 Plätzen im Garten ohne die Bankettsäle zu betreiben. Die Co-Direktion des Theaters Neumarkt sagt auf Anfrage: «Wir haben die Wirtschaft und die Mitarbeitenden bei uns im Haus sehr geschätzt.» Dass es Nutzungskonflikte zwischen Wirtschaft und Theater gab, sei schon vor ihrem Antritt kein Geheimnis gewesen. «Dass diese Konflikte nun zu einer frühzeitigen Kündigung des Pachtvertrages führen sollen, hat uns aber doch überrascht.» Das Verfahren ist hängig, deshalb kann René Zimmermann nicht darüber sprechen, sagt aber: «Es gibt keine Gespräche mit der Stadt. Sie hat einen externen Juristen beauftragt, der mit unserem Anwalt eingeschriebene Briefe wechselt.» Auch Liegenschaften Stadt Zürich (LSZ) kann wegen der laufenden juristischen Abklärungen keine Auskunft geben. «Die Mitteilung, dass der Betrieb geschlossen wird, erreichte uns völlig überraschend, weshalb es voraussichtlich zu einem Leerstand kommt», erklärt Kuno Gurtner von Liegenschaften Stadt Zürich. Bei Beendigung des Mietverhältnisses wird LSZ das Restaurant neu ausschreiben. «Wann das der Fall ist, ist offen und hängt davon ab, was die juristischen Abklärungen ergeben», erklärt Gurtner. Bei einem allfälligen Leerstand müsse mit der Zunft überlegt werden, welche Zwischenlösungen möglich seien. Zimmermann beobachtet eine Tendenz, was die Vermietungspraxis von Traditionslokalen betrifft. «Objekte in der Altstadt werden zunehmend oft einfach nur verwaltet, ohne das Zwischenmenschliche zu pflegen. Die Miteinander-Kultur, die unser Quartier einmalig macht, bröckelt.»

Konsequenz entscheidend

Am 23. Dezember begrüsst das Service-Team zum letzten Mal die Gäste. Matze Schendel wird noch einmal mit seiner Brigade kochen. Zehn Jahre war er im Neumarkt, kocht mit allen Sinnen, was Sensoriker René Zimmermann begeistert. «Das ganze Team hat unsere Philosophie mitgetragen.» Jeden Dienstag und Freitag gehen sie auf den Markt am Bürkliplatz. «Der Freiland-Nüsslisalat ist jetzt von wunderbarer Qualität, auch wenn man ihn wegen des Sandes mehrfach waschen muss.» Auch Winterspinat landet auf dem Teller, die Kartoffelsorte La Ratte, Fleisch aus artgerechter Haltung und Fische aus dem Zürichsee. Zu über 100 Schweizer Produzenten, Schnapsbrennern und Weinmachern haben sie eine Beziehung aufgebaut, die gegenseitige Wertschätzung ist gross. «Heute brüsten sich Betriebe mit Regionalität. Vieles tönt gut, aber Konsequenz ist entscheidend. Dass man für eine Sache einsteht, seinem Stil treu bleibt, sich aber dennoch weiterentwickelt.»Von gehypten Gastro-Trends und gekünstelter Atmosphäre hielt er nie etwas. Wichtiger ist ihm das ehrliche, freundliche Miteinander. Das schätzen auch die Stammgäste. «Diese Kontakte aufzugeben, tut am meisten weh.»

Die verbliebenen knapp zwanzig Angestellten haben eine neue Stelle in Aussicht. Hotels und Gaststätten fehlt Personal. «Im Gegensatz zu Italien und Frankreich ist die Wertschätzung gegenüber Personen, die in der Gastronomie tätig sind, bei uns gering. Das ist ein Grundproblem», sagt Zimmermann. Auf der Homepage ist eine Todesanzeige zur Wirtschaft aufgeschaltet. «Wir haben alle Hoffnung fahren lassen. Seither spüren wir eine gewisse Entspannung», sagt der 73-Jährige.

Weitere Infos: Wirtschaft Neumarkt, Tel. 044 252 79 39

www.wirtschaft-neumarkt.ch

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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