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Die Krise belastet viele Familien. Ihren Frust und ihre Aggressionen lassen sie nicht selten an den Kindern aus. Im Universitäts-Kinderspital Zürich kommen die tragischen Missbrauchsfälle ans Tageslicht. Symbolbild: Clipdealer

Blutergüsse, Brüche, Tränen

Von: Ginger Hebel

16. Februar 2021

Kindsmisshandlungen: Es ist die höchste Fallzahl, welche die Kinderschutzgruppe des Universitäts-Kinderspitals Zürich je erfasst hat. 397 Kinder haben ganz offensichtlich Gewalt erfahren – durch die eigenen Eltern. Arzt Georg Staubli sieht im Notfall täglich verletzte Kinder. Er ist überzeugt: Viele Eltern sind überfordert. 

Mit grossen Augen schaute der siebenjährige Junge den Arzt an. «Ich bin die Treppe runtergefallen», sagte er. Georg Staubli aber wusste, dass dies nicht stimmte. Denn im Gesicht des Buben war ganz klar der Abdruck einer Hand zu erkennen. Er wurde geschlagen. Erst zwei Jahre später, bei einem erneuten Aufenthalt im Universitäts-Kinderspital Zürich, gab er es zu. «Ich habe Sie damals angelogen. Der Papa schlägt mich.»

Für Georg Staubli, Leiter der Kinderschutzgruppe und Chef der Notfallstation im Zürcher Kinderspital, ein bewegender Moment. Auch wenn er als Arzt emotionale Distanz wahren muss: «Es gibt so viele traurige Geschichten, die mir menschlich nahegehen und mich beschäftigen», sagt der 54-Jährige. Er ist überzeugt: Betroffenheit ist für diese Arbeit wichtig.

Im Krisenjahr 2020 verzeichnete die Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle des Kinderspitals Zürich erneut eine Zunahme der gemeldeten Verdachtsfälle von Kindsmisshandlungen. Insgesamt bearbeiteten sie 592 Fälle – 48 mehr als im Vorjahr. «Dies ist leider die höchste Fallzahl, die wir bei uns je erfasst haben», sagt Georg Staubli.

Buben öfter geschlagen

Bei 397 Kindern hat das Spezialisten-Team eine Misshandlung bestätigt, viele wurden körperlich und sexuell missbraucht. Bei 168 Kindern blieb der Verdacht bestehen, konnte aber nicht nachgewiesen werden. Jedes Jahr erfassen die Schweizer Kinderschutzorganisationen zwischen 30 000 und 50 000 Kinder. Sie alle brauchen Hilfe und Unterstützung, weil sie Gewalt erfahren, vernachlässigt werden oder sexuellen Missbrauch erleiden. Die Fachpersonen sind sich einig, dass sie nur die Spitze des Eisbergs sehen. Der grosse Teil der Misshandlungen bleibe verborgen.

Für das Ärzteteam im Zürcher Kinderspital ist auch klar: Die erneute Zunahme der Fälle ist pandemiebedingt. «Überforderung ist ein starker Risikofaktor für Kindsmisshandlungen», weiss Staubli. Viele Menschen leiden unter der Isolation. Dadurch erhöhe sich auch der Stress innerhalb der Familie, was zu häuslicher Gewalt führe. «Wenn Kinder miterleben, wie ihre Eltern sich streiten und schlagen, dann ist das eine Form von psychischer Misshandlung, die genauso schlimm ist, wie wenn sie selbst geschlagen werden.» Georg Staubli sieht im Notfall viele Kinder mit blauen Flecken, Blutergüssen, Knochenbrüchen. Häufig seien es Buben, die geschlagen und körperlich gezüchtigt würden. «Sie weinen im Kleinkindalter häufiger als Mädchen und sind oft wilder. Auch kulturelle Faktoren spielen eine Rolle», erklärt Staubli. Denn: Nicht alle Eltern erziehen gewaltfrei. «Zum Glück ist letztes Jahr aber kein Kind an seinen Verletzungen gestorben.»

Zivilcourage gefragt

Dennoch fragt sich Georg Staubli jedes Mal, wie es so weit kommen musste und ob man Anzeichen nicht früher hätte erkennen müssen. «Die Frage, die uns alle umtreibt, ist: Was können wir tun, damit es den Schwächsten in der Gesellschaft besser geht?» In Zürcher Spitälern wurde das SPEK-Programm eingeführt. Patienten auf den Erwachsenen-Notfallstationen, die beispielsweise Suchtprobleme haben, werden vermehrt befragt, um Kindswohlgefährdungen auszuschliessen. Viele Kinder befinden sich in einem Loyalitätskonflikt. Sie haben ihre Eltern lieb, auch wenn sie geschlagen werden. Viele sind eingeschüchtert. Georg Staubli sucht das Gespräch mit den Eltern, um Lösungen zu finden.

Er befindet sich dabei stets im Austausch mit Experten und Fachinstitutionen. Im Lockdown, wo viele Leute vermehrt zuhause sind, wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Mitmenschen gelegt. Georg Staubli erzählt von einem Mann, der die Polizei rief, nachdem er immer wieder hörte, wie in der Nachbarswohnung laut gestritten wurde. Die Beamten trafen auf Eltern im Drogenrausch und zwei verwahrloste Kleinkinder. «Hätte dieser Mann keine Zivilcourage gezeigt und sich nicht eingemischt, wäre diesen Kindern womöglich etwas Schlimmes zugestossen», sagt Georg Staubli.

Weitere Informationen:

www.kinderschutzgruppe.ch

www.kispi.uzh.ch

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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