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Von innen heraus. (Bild: Philip Heckhausen)

Ein frischer Blick auf Zürichs umstrittenstes Quartier

Von: Isabella Seemann

08. Juni 2021

Im Spätsommer vor neun Jahren wurden die ersten Gebäude in der Europaallee bezogen, im Winter 2020 gingen die letzten Bauarbeiten zu Ende. Das Buch «Gemisch, Gefüge, 76 Ginkgos – Europaallee Zürich» porträtiert das neue Quartier beim Hauptbahnhof, das die Stadt prägt und weit darüber hinaus strahlt. 

Wer mit dem Zug direkt vom Flughafen oder von Basel, Genf oder Chur in den Hauptbahnhof einfährt, wird sogleich von den grossen, glänzenden Blöcken aus Glas und Metall entlang der Gleise in Bann gezogen. Ob’s gefällt oder nicht, die Europaallee ist zu einem Erkennungszeichen der Stadt Zürich geworden.

Exemplarisch für Zürich wirken auch die politischen und gesellschaftlichen Debatten, die das Bauprojekt von Beginn weg auslösten und die auch heute noch andauern. Die Europaallee war für viele Zürcher keine Liebe auf den ersten Blick. Als Betonwüste, klinisch toter Architekturzombie und Paradebeispiel verfehlter Stadtplanung wurde sie gescholten. Klotzige Langeweile, steril und unbelebt – das waren die meistgehörten Prädikate.

Seit im Spätsommer vor neun Jahren die ersten Gebäude in der Europaallee bezogen wurden und im Winter 2020 die letzten Bauarbeiten zu Ende gingen, hat sich vieles geändert. Das liegt hauptsächlich daran, dass Leben auf den Plätzen und Promenaden eingekehrt ist und sich die neuen Wege ganz selbstverständlich in das bestehende Netz integriert haben. Städtebaulich weht hier ein frischer Wind durch die Häuserzeilen. Tatsächlich spiegeln sich in der Entwicklung des Stadtteils sehr viele städtebauliche Herausforderungen wider. Dazu gehören Verdichtung, die Mischung von Wohnen und Arbeiten auf engem Raum, der Umwelt- und Klimaschutz, der autofreie öffentliche Raum, die gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr und die Schaffung von urbanen Lebensräumen mit einer Vielfalt von gastronomischen, kommerziellen und kulturellen Einrichtungen. Und wenn man sich in den Boulevardcafés dem Müssiggang hingibt, ist es kaum noch vorstellbar: Aber während Jahrzehnten war dieser Platz ein Unort in der Stadt, an dem mehrheitlich unansehnliche Lagerhallen der SBB hinter Gitterabsperrungen standen.

Das neue Stadtquartier Europaallee verdient – und lohnt – einen genaueren Blick. Inspiration dazu bietet der kürzlich erschienene Band «Gemisch, Gefüge, 76 Ginkgos – Europaallee Zürich», herausgegeben vom Architekturpublizisten Caspar Schärer und der Bauherrin SBB. Er stellt die Bauwerke vor, die Zürichs neues Gesicht prägen, und beschreibt auf fundierte Weise die Diskussionen um das Areal, die Planung über zahlreiche Umwege, das Werden und Entstehen der Europaallee – und das vollendete Werk.

In gehaltvollen Essays analysieren Fachleute aus verschiedenen Disziplinen Städtebau- und Stadtentwicklungsfragen. Zudem äussern sich in Interviews und eigenen Beiträgen zahlreiche Akteure. Neue, exklusiv für das Buch gezeichnete Pläne verschaffen einen bisher nicht gekannten Überblick über alle Baufelder hinweg. Ausdrucksstarke Photographien zeigen die Neubauten der verschiedenen Architekturbüros wie jenes von David Chipperfield Architects, der auch den Kunsthaus-Erweiterungsbau schuf, und fügen sich mit historischen Aufnahmen zu einer Geschichte der Stadtquartierwerdung in der Metropole Zürich. Und schliesslich erzählen Gewerbetreiber, wie sie dafür sorgen, dass eine dörflich-familiäre Gegenwelt zum Tech-Standort wächst und nachbarschaftliche Treffpunkte entstehen. Vieles in der Europaallee ist also eine Frage der Perspektive.

Das «Tagblatt der Stadt Zürich» hat Caspar Schärer, Architekt und Ko-Herausgeber von «Gemisch, Gefüge, 76 Ginkgos – Europaallee Zürich», nach seiner Sicht auf Zürichs neuen Stadtteil befragt.

In nur zehn Jahren ist beim Hauptbahnhof ein neuer Stadtteil gewachsen. Aber ist er auch Teil der Stadt?

Caspar Schärer: Die Europaallee verkörpert eine bauliche Dichte, wie es sie bisher in Zürich noch nicht gab. Ich kann gut verstehen, dass einem das fremd vorkommt. Aber wenn es einen Ort in dieser Stadt gibt, an dem eine derartige Ballung von Nutzungen sinnvoll ist, dann hier, direkt neben einem gewaltigen Umschlagsplatz des öffentlichen Verkehrs. Im Grunde bildet die Baumasse der Europaallee die ungeheure Bedeutung des Zürcher Hauptbahnhofs ab. Dem Bahnhof selbst sieht man das ja längst nicht mehr an: Er wächst nur noch im Untergrund. Es gibt keinen auch nur annähernd vergleichbaren Ort in der Schweiz, mitten in einer Stadt. Ich halte es für richtig, dass dies nun auch im Stadtbild ablesbar ist.

Diese Gebäude könnten irgendwo stehen, sie haben nichts Zürcherisches. Einverstanden?

Nein, das stimmt so nicht. Schauen Sie sich in Zürich mal um: Sie finden Businessquartiere zum Beispiel an der Walche, an der Sihlporte oder am Bleicherweg. Dort stehen die typisch zürcherischen Geschäftshäuser mit ihrer zurückhaltenden, aber stellenweise ziemlich edlen Anmutung. Da sehe ich durchaus Parallelen zu einigen Bauten an der Europaallee. Früher, sagen wir mal bis vor hundert oder hundertfünfzig Jahren, kamen die Baumaterialien halt tendenziell eher aus der Region. Das schuf eine gewisse Vertrautheit. Heute ist das nicht mehr so: Material kann von überall her kommen. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass sich in vielen Einkaufsstrassen eine Monotonie auf Erdgeschossniveau breitmacht. Das hat aber nichts mit der Architektur zu tun, sondern mit dem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug der globalen Marken. Überall sieht man heute die gleichen Läden. An der Europaallee ist das nicht so: Hier finden Sie lokale Eigengewächse, die an einer so prominenten Lage eine Chance erhalten.

Wie findet man Zugang zu diesem neuen Stadtteil, wenn er einem fremd anmutet?

Man kann sich der Europaallee auf viele verschiedene Arten nähern. Vielleicht probiert man einfach mal alle aus. Der Weg über den Negrellisteg vom Kreis 5 her ist spektakulär: Da baut sich vor einem eine kleine Skyline auf, in die man dann auf der Spiraltreppe abtaucht. Das ist allein schon räumlich ein interessanter Weg. Oder von der Langstrasse her: Auf dem Platz vor dem Kosmos und dem Hotel ist immer irgendetwas los. Hier überschneiden sich unübersehbar der alte Kreis 4 und die Europaallee. Wer von hier aus die Lagerstrasse hinaufschaut, kann feststellen, dass sich die Höhe der Sockelbauten der Europaallee an den bestehenden Häusern gegenüber orientiert. Es gibt noch weitere Möglichkeiten, etwa vom Helvetiaplatz aus über die Kasernenstrasse oder vom Löwenplatz her über die Gessnerbrücke. Jeder Zugang hat eine eigene räumliche Geschichte.

Nehmen Sie die Europaallee nach der Arbeit am Buch anders wahr als vorher?

Ja, da kam einiges hinzu. Ich bin allgemein jemand, der gerne der Stadt beim Wachsen zuschaut. Deshalb habe ich natürlich das Werden der Europaallee von Anfang an verfolgt. Mir fehlte aber bisher die Sicht der Menschen, die sich täglich hier aufhalten. Auf einer ihrer Touren durfte ich die Zeichnerin Maria Pomiansky begleiten, als sie Geschäftsführerinnen der Erdgeschoss-Läden porträtierte. In diesem Zusammenhang führte ich einige spannende Gespräche und erfuhr vieles über das ganz alltägliche Leben an der Europaallee. Ich kann Ihnen verraten: Es ist nicht gross anders als anderswo.

Wie bewerten Sie als Architekt und Architekturpublizist die Qualität der Architektur der Europaallee?

An diesem Ort ist die Architektur eigentlich der Hintergrund, denn es handelt sich im Prinzip um ein normales, zentral gelegenes Stadtquartier. Deshalb ist für mich nicht das Spektakel die Referenz, sondern die vorhin erwähnten City-Quartiere. Etwas gewöhnungsbedürftig sind die grossen Grundstücke, auf denen nun entsprechend voluminöse Gebäude stehen. Die Architektinnen und Architekten haben sich meiner Ansicht nach viel Mühe gegeben, die beträchtliche Baumasse zu gliedern und sie so «verdaubarer» zu machen. Die Aufteilung in kompakte Sockel und einzelne aufragende Türme schafft eine lebendige Silhouette, die sowohl einzigartig ist und doch nicht wahnsinnig aussergewöhnlich.

Zum Buch: Hg. von Caspar Schärer und
SBB AG: «Gemisch, Gefüge,
76 Ginkgos – Europaallee Zürich», Verlag Park Books, 2021,
ISBN 978-3-03860-211-8

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