mobile Navigation

News

Im Friedhof Sihlfeld laden sechs Lesebänke zum Schmökern ein. Bild: CLA

Friedhof wird zur Bücher-Tauschbörse

Von: Clarissa Rohrbach

20. Juni 2017

Die sechs Lesebänke im Friedhof Sihlfeld sind ein Erfolg. Pro Woche nehmen Passanten 80 Bücher nach Hause. Und bringen ihre eigenen mit.

11 Uhr im Friedhof Sihlfeld: Vögel zwitschern, die Sonne scheint prall. Ein Mann schiebt gemütlich, fast sinnierend, den Kinderwagen mit seiner schlafenden Tochter. Vor einer Bank bleibt er stehen. Auf der Sitzfläche steht eine grüne Box, darauf die Aufforderung: «Schieben Sie das Lesen nicht auf die lange Bank – geniessen Sie diesen schönen Ort mit einem guten Buch!» Der Mann klappt den Deckel hoch, in der Box liegen zwei Dutzend Bücher: Krimis, Romanzen und sogar ein Werk der preisgekrönten Agota Kristof. «Behalten erlaubt», lädt die Box den jungen Mannes ein. Er zögert nicht und packt einen Roman in seine Tasche. 

«Friedhofsbesuchende freuen sich über das Angebot», meint Brigitte Zünd, Direktorin der PBZ Pestalozzi-Bibliothek Zürich. Pro Woche würden diese rund 80 Bücher mit nach Hause nehmen. Mitarbeitende der PBZ Aussersihl füllen die Boxen alle drei Tage nach. Es handelt sich dabei um Bücher, welche die Bibliothek aus ihrem Sortiment genommen oder erneuert hat. Bisher seien die Boxen unbeschädigt geblieben. «Die Annahme bestätigt sich, dass Menschen, die Bücher und Ruhe lieben, auch achtsam mit dem Material umgehen.» Der Friedhof sei nicht nur ein Ort für Trauernde. Viele würden hier ihr Bedürfnis nach Erholung stillen, Lesen passe gut in dieses Umfeld. Einige wenige klagen, dass mit den Lesebänken die Totenruhe gestört werde, das sei jedoch die Ausnahme. 

Hinter der Idee steht Rolf Steinmann, Leiter des Bestattungs- und Friedhofamtes der Stadt Zürich. Zusammen mit der PBZ hat er das Projekt zum Welttag des Buches am 23. April lanciert. «Die Lesebänke werden gut genutzt», bestätigt Steinmann. Mit geringem Aufwand könne man so zur Lebensqualität in der Stadt beitragen. Ihm ist aufgefallen, dass die Leute auch ihre eigenen Bücher mitbringen, um sie weiterzugeben. Der Friedhof würde so zusätzlich zu einer Bücher-Tauschbörse. 

 «Bleibt, geniesst!»

Der Mann mit dem Kinderwagen, Samuel Mian, findet die Lesebänke «eine coole Sache». «In Zeiten von Social Media, in denen man nur noch auf einen Bildschirm starrt, ist das Lesen im Park ein authentisches Erlebnis.» Er kenne Leute, die deswegen extra auf den Friedhof kämen. Auch Regula Atteya, eine junge Mutter, die auf der nächsten Lesebank sitzt, findet das Projekt «herzig». «Ich bin mir nie sicher, ob ich hier bei den Toten verweilen darf, doch jetzt signalisieren die Bücher: bleibt, geniesst!» Der Friedhof würde so als Erholoase aufgewertet. Doch es gibt auch Skeptiker. Eine ältere Frau meint, sie sei zwar eine Leseratte, doch gebrauchte Bücher in die Hand zu nehmen, ekle sie. «Ich weiss nicht, wer sie angefasst hat. Lieber nehme ich mein eigenes Buch mit.»

Bis Ende Oktober bleiben die Bücher nun im Friedhof Sihlfeld. Im Winter wir dann Bilanz gezogen. «Es wäre durchaus denkbar, nächsten Sommer noch weitere Friedhöfe mit Lesebänken auszustatten», so Steinmann. 

zurück zu News

Artikel bewerten

Gefällt mir ·  
5.0 von 5

Leserkommentare

Keine Kommentare