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Die Hausarztmedizin verzeichnet einen massiven Nachwuchsmangel. Auch Hausbesuche werden immer seltener angeboten. «Das ist eine ungute Entwicklung, weil Hausbesuche in vielen Fällen Hospitalisierungen vermeiden können», sagt Prof. Thomas Rosemann, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin am Universitätsspital Zürich. Adobe Stock

Hausbesuche im Sinkflug

Von: Ginger Hebel

15. März 2022

Mangel: Hausarztpraxen schliessen, weil pensionierte Hausärzte keine Nachfolger finden. Patienten leiden, weil der Arzt des Vertrauens fehlt. Zudem bieten Ärzte immer weniger Hausbesuche an, weil es sich finanziell nicht lohnt. 

Der Patient hat Probleme mit dem Kreislauf. Er fühlt sich nicht wohl und hätte gerne seinen Hausarzt gesprochen, den Arzt seines Vertrauens. Doch dieser wurde vor kurzem pensioniert. Einen Nachfolger für seine Hausarztpraxis hat er nicht gefunden, er musste sie schliessen. Der Patient weiss nicht, an wen er sich jetzt wenden soll. Er fühlt sich ohnmächtig. Das Modell des lebenslangen Hausarztes verschwindet. «Die Hausärzte sind in die Jahre gekommen, wie viele Patienten auch. Jeder siebte Zürcher Hausarzt ist 60 Jahre oder älter. Viele, die pensioniert werden, finden nur mit Müh und Not einen Nachfolger. Das ist ein Problem», sagt Josef Widler, Präsident der Ärztegesellschaft Kanton Zürich.

Er praktiziert seit 30 Jahren als Hausarzt in Altstetten und hat erlebt, wie in den vergangenen Monaten drei Praxen im Quartier schliessen mussten. Aus Kapazitätsgründen können bestehende Praxen oft keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen. In der Stadt Zürich praktizieren zurzeit 530 Hausärztinnen und Hausärzte. Die Lage ist angespannt. Administrativer Aufwand Prof. Thomas Rosemann, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin am Universitätsspital Zürich, spricht von einem massiven Nachwuchsmangel. «Junge Ärzte haben immer weniger Interesse daran, eine Einzelpraxis zu übernehmen, weil sie das unternehmerische Risiko nicht tragen wollen.» Sie bevorzugen ein Angestellten-Verhältnis oder arbeiten in einer Gruppenpraxis. Zudem sind immer mehr Frauen im Hausarzt-Beruf tätig, oft in Teilzeitpensen. «Der administrative Aufwand hat kontinuierlich zugenommen. Viele Hausärzte schlagen sich stundenlang mit Papierkram herum und haben weniger Zeit für ihre Patienten. Das ist wenig zufriedenstellend», sagt Rosemann.

Viele Schweizerinnen und Schweizer haben keinen Hausarzt mehr. Bei einem medizinischen Problem suchen sie einen Spezialisten auf oder gehen direkt in den Notfall oder in die Permanence. Ältere Menschen sind jedoch häufig auf ärztliche Hausbesuche angewiesen. «Bei einer Blutzuckerentgleisung, Magen-Darm-Krankheiten oder Schwindel sind Hausbesuche ideal. Ärzte bieten diese aber immer seltener an, weil es sich finanziell kaum lohnt. Das ist eine ungute Entwicklung, weil Hausbesuche in vielen Fällen Hospitalisierungen vermeiden können», sagt Thomas Rosemann. Über ein Drittel der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz stammt mittlerweile aus dem Ausland oder verfügt über ein ausländisches Diplom.

Der Kanton Zürich hat einen Zulassungsstopp eingeführt für alle, sofern sie sich nicht drei Jahre an einem Schweizer Spital aus- oder weitergebildet haben. Rosemann betont, dass es eine gewisse Überversorgung bei den Spezialisten gebe, die es zu begrenzen gelte. «Es braucht aber auch mehr Studienplätze für Medizin, um die Jungen nachzuziehen.» Kaum Zeit für Gespräche Der Berufsverband FMH vertritt die Schweizer Ärztinnen und Ärzte und setzt sich dafür ein, dass alle Patientinnen und Patienten Zugang zu einer qualitativ hochstehenden und finanziell tragbaren medizinischen Versorgung haben.

«Der Hausärzte-Mangel ist in ländlichen Gebieten grösser als in der Stadt, wenn auch er hier spürbar ist», sagt Charlotte Schweizer von FMH. Einige Gemeinden ergreifen bereits Massnahmen, um Hausärzte in ländliche Gegenden zu holen. «Dazu gehören Themen wie flexible Arbeitsmodelle in Gemeinschaftspraxen und Möglichkeiten zur Kinderbetreuung», betont Schweizer. Auch sei es wichtig, verschiedene Leistungserbringer zusammenzubringen, darunter Spi­tex-Organisationen und ambulante Kliniken. Ein weiteres Problem sei das aktuelle Tarifsystem. «Der Tarmed ist veraltet und bildet die moderne Medizin nicht zeitgemäss ab», betont Charlotte Schweizer. Diese Meinung teilt auch der Stadtzürcher Hausarzt Josef Widler. Technische Leistungen seien tendenziell übertarifiert, während personalintensive Tätigkeiten eher unterfinanziert seien. «Der Tarif müsste dem Hausarztbereich besser gerecht werden. Gespräche mit Patienten beispielsweise sind als ärztliche Leistung auf 20 Minuten limitiert», erklärt Schweizer. Wenn ein Hausarzt mehr Zeit investiert, arbeitet er gratis. Dabei sei es genau das, was der Patient will: Ein Arzt, der sich Zeit nimmt.

«Mit einem guten Gespräch lassen sich viele Kosten sparen. Es ist entscheidend, wenn ein Arzt in Ruhe erklären kann, wie ein Medikament wirkt», ist Schweizer überzeugt. Der Bundesrat ist aufgefordert, den aktualisierten Arzttarif Tardoc zu genehmigen. Dieser hat ein eigenes Hausarztkapitel, garantiert eine kostenneutrale Einführung, ist einfacher und transparent.

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

Im Notfall erreichbar

Das Aerztefon ist die erste Anlaufstelle für nicht lebensbedrohliche medizinische Notfälle im Kanton Zürich (bei Lebensgefahr: 144). Als zentrale Notfallstelle leistet das Aerztefon einen Beitrag zur Entlastung der Ärzte, Rettungsdienste, Sanitätsnotrufzentralen und Spitäler. Die Nummer 0800 33 66 55 ist rund um die Uhr erreichbar. Hilfesuchende erhalten eine kostenlose Beratung und werden bedarfsgerecht an die passende medizinische Anlaufstelle weitervermittelt.
Auch die SOS-Aerzte (044 360 44 44) bieten im Grossraum Zürich medizinische Versorgung rund um die Uhr. Die Ärztinnen und Ärzte kommen jederzeit zu Ihnen nachhause oder dorthin, wo Sie gerade sind. GH

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