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Anna Pia Maissen: «Das Stadtarchiv ist das Gedächtnis der Stadt und macht Staatshandeln für jeden einsehbar.» (Bild: PD)

Hüterin der Stadtgeschichte

Von: Jan Strobel

02. Februar 2022

Seit 2003 ist Anna Pia Maissen die Direktorin des Stadtarchivs Zürich. Ende März geht sie in Pension. In ihre Amtszeit fiel einer der grossen Umbrüche in der langen Geschichte der Institution. 

Der ergraute Herr ist hinter den Aktenbergen und vergilbten Büchern kaum noch zu erkennen, es sind regelrechte Gebirge aus Papier, die sich um ihn herum auftürmen als gestapelter Amtsschimmel, als gestapelte Zeit. Der Mann allerdings weiss: Er hält eine Machtposition inne. Nur er kennt in dieser scheinbaren Unordnung die Ablage, in der sich wichtige, archivierte Dokumente befinden, die Zeugnis ablegen über das Handeln der Behörden, aber auch über ganz individuelle Geschichten.

Anna Pia Maissen, die Direktorin des Stadtarchivs Zürich, schmunzelt, wenn sie dieses Foto an der Wand ihres Büros betrachtet. Es ist eine humoristische Hommage an die Kunst und die Wissenschaft des Archivierens, die schon längst nichts mehr mit diesem ergrauten Herrn und seinen verstaubten Aktenbergen zu tun hat. Das gilt natürlich besonders für eine Institution wie das Stadtarchiv Zürich mit seinen insgesamt 24 Laufkilometern an Akten. Das Stadtarchiv, angesiedelt als eigene Dienstabteilung im Präsidialdepartement von Corine Mauch, ist heute eines der fortschrittlichsten Archive der Schweiz. Entscheidend dazu beigetragen hat Direktorin Anna Pia Maissen. Ende März geht sie, die unermüdliche Lobbyistin für das Archiv und für die Archivistik, in Pension. «Ich verlasse hier meinen Traumberuf», sagt Anna Pia Maissen, «aber ich kann sehr gut loslassen. Es ist Zeit für einen Wechsel».

Sprung ins kalte Wasser

Als sie 1990 beim Stadtarchiv befristet als wissenschaftliche Mitarbeiterin anfing, war die junge Frau, wie alle anderen Kolleginnen und Kollegen, eine absolute Quereinsteigerin. «Es gab keine archivarische Ausbildung wie heute», erklärt sie. Die gebürtige Churerin studierte damals an der Universität Zürich Allgemeine Geschichte sowie italienische und englische Literatur als Nebenfächer. Ein Archiv hatte sie lediglich für ihre Lizentiatsarbeit einmal aufgesucht. Jetzt holte sie ihr Doktorvater als Unterstützung ins Stadtarchiv am Neumarkt. «Ich wurde ins sprichwörtliche kalte Wasser geworfen», so Anna Pia Maissen. Das Schwimmen im kalten Wasser indessen erwies sich zunächst als ziemlich monotone Arbeit. Es galt, Etiketten zu beschriften und auf die Archivschachteln zu kleben, Dokumente zu alphabetisieren, Zeitungen wie das «Tagblatt der Stadt Zürich» oder die «NZZ» chronologisch abzulegen. Geistig war das zwar nicht befruchtend, aber Anna Pia Maissen spürte bereits, wie dieses Archiv sie zu faszinieren begann. Es war ein Ort der Recherche, der Neugier, an dem Wissen und Fakten wieder zum Vorschein kamen, ein Wissen, das nicht in Büchern stand. «Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen», diese Aussage wurde nirgends so real wie im Stadtarchiv. Bald durfte sich Anna Pia Maissen, mittlerweile fest als Mitarbeiterin angestellt, tatsächlich an die Königsdisziplin des Archivierens wagen: die Bewertung von Dokumenten. Prägend für sie war der Moment, als der Stadtrat im Zug des Fichenskandals den grossen Bestand an Staatsschutzakten der Stadtpolizei nicht wie ursprünglich geplant vernichtete, sondern beschloss, diesen 1993 dem Stadtarchiv zu übergeben. «So konnten die persönlichen Geschichten der Betroffenen gerettet, das dunkle Erbe des ‹Schnüffelstaats› wissenschaftlich aufgearbeitet werden», sagt Anna Pia Maissen. «Das Stadtarchiv ist das Gedächtnis der Stadt, ein Abbild der Gesellschaftsentwicklungen. Und es macht das Staatshandeln für jeden einsehbar. Es steht also auch für Transparenz und Rechenschaftsfähigkeit.»

Als sie 2003 das Amt der Direktorin übernahm, war das gleichzeitig der Beginn einer neuen Ära in der über 200-jährigen Geschichte des Stadtarchivs, eines Umbruchs. Jetzt wurde die Digitalisierung der Bestände zu einem der wichtigsten Pfeiler und einer Herausforderung der Arbeit, die bis heute weiter ausgebaut wird. Es gilt zum Beispiel, die unzähligen Akten der städtischen Behörden und der gesamten Stadtverwaltung nicht nur physisch, sondern auch digital sukzessive zu bearbeiten, zu bewerten, zu sichern und online öffentlich zugänglich zu machen. Dazu kommen etwa Firmenarchive, Privatnachlasse, Dokumente von Vereinen, Parteien oder anderen Stadtzürcher Organisationen. Der Bestand des Archivs wächst stetig. Die öffentlichen Organe bieten dem Stadtarchiv sämtliche Unterlagen mit ihren Metadaten innerhalb von zehn Jahren nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfristen zur Übernahme an. «Von den angebotenen Dokumenten übernehmen wir etwa zehn Prozent. Nicht jeder Zettel oder jedes Memo kommt auch ins Archiv», präzisiert Anna Pia Maissen.

Eine besondere Aufgabe erwächst Anna Pia Maissens designierter Nachfolgerin Andrea Wild in der weiteren Ausarbeitung eines geplanten Neubaus des Stadtarchivs. Der jetzige Standort am Neumarkt im Haus zum Rech ist zu klein geworden und entspricht nicht mehr den neusten Standards eines Archivs. Magazin- und Verwaltungsräume sollen wieder unter einem Dach zusammengelegt werden. Ein Neubau ist deshalb bis 2030 auf dem Centravo-Areal in der nordwestlichen Ecke des Schlachthof-Areals angedacht. Am 9. März wird der Gemeinderat gemäss der aktuell veröffentlichten Traktandenliste über das Projekt und den Projektierungskredit debattieren.

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