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Die kontroverse Bewegung «Extinction Rebellion» sorgt immer wieder für Aufsehen. (Bild: www.xrebellion.ch)

Notstand oder Nötigung?

Von: Isabella Seemann

17. Januar 2023

Ein Klimaaktivist, der an einer unbewilligten Strassenblockade auf der Uraniastrasse teilnahm, erhob Einsprache gegen einen Strafbefehl wegen Nötigung und erhoffte sich einen Freispruch. 

Sie beschmieren Kunstwerke und kleben sich auf Strassen. Sie fühlen sich dazu legitimiert, um eine Klimaapokalypse abzuwenden und die Regierungen zum Handeln zu zwingen. Für die einen sind sie Helden und Weltverbesserer, andere bezeichnen sie als Klimaterroristen, Endzeitsekte, Aufmerksamkeitsguerilla. Dazwischen gibt es jene, die ihr Ziel für wichtig, aber die Mittel für kontraproduktiv halten. Denn in einer Demokratie muss, wer Änderungen herbeiführen will, Mehrheiten schaffen.

Unbestritten dürfte sein, dass die Klimaaktivisten es verstehen, auf der medialen Klaviatur zu spielen. Sie bieten gute Motive für Fotografen und Stoff für Zeitungs- und Fernsehberichte. Selbst aus Gerichtsverhandlungen machen sie ein mediales Happening. «Nehmen Sie als Medienschaffende die Gelegenheit wahr, die sich Ihnen am 11. Januar bietet, und verfolgen Sie diesen politischen Prozess von Anfang an mit einer eigenen Berichterstattung!», heisst es in der Medienmitteilung, die ein Sprecher der kontroversen Bewegung «Extinction Rebellion» («Aufstand gegen das Aussterben») vor seiner eigenen Verhandlung am Bezirksgericht an die Medien versandte, um das Interesse am Fall zu schüren.

Martin, Mitte 40 und Lehrer in der Westschweiz, machte am 4. Oktober 2021 zusammen mit weiteren Anhängern von «Extinction Rebellion» wahr, was sie in einem achtseitigen Brief mit radikalen Forderungen an den Bundesrat angedroht hatten: Sie würden die Stadt Zürich lahmlegen, bis die Landesregierung den Klimanotstand ausgerufen habe. Ab Mittag blockierten sie die Uraniastrasse auf Höhe Sternwarte mit einem Boot, einem aufblasbaren Globus und einem Transparent: «Wir wollen leben.» Die Polizei sperrte die Strassen ab und leitete den Verkehr um. Die VBZ stellte den Trambetrieb an jenem Abschnitt der Bahnhofstrasse ein. Lieferwagenchauffeure waren gezwungen, grosse Umwege zu fahren. Arbeitstätige konnten das Tram nicht nutzen und verloren Zeit. Der Stadtrat bezifferte die Kosten, die die Stadt Zürich für die Einsatzkräfte von Schutz und Rettung sowie von der Polizei während der Aktionswoche zu bezahlen hatte, mit 684 578 Franken. 133 Personen wurden verhaftet, darunter Martin. Er erhielt einen Strafbefehl wegen Nötigung, den er anfocht, womit der Fall an das Bezirksgericht kam.

Eine politische Mission

Der Prozess hält nicht, was die Ouvertüren versprachen. Bei den Medien ist das Interesse nach der grossen Menge gleich gelagerter Fälle bescheiden. Nur etwas mehr als ein Dutzend Unterstützer reisten an, hauptsächlich aus dem Welschland, mehrheitlich Seniorinnen, vom grauen Scheitel bis zur Sohle der Funktionsschuhe von der gerechten Sache beseelt. Doch keine Zahl ist zu gering, als dass sich ein Aktivist mit einer politischen Mission vor Gericht nicht ins Feuer reden würde.

Bereits die erste Frage des Richters zur Sache nimmt Martin zum Anlass, eine ausschweifende Rede zu halten. Die Aktion vom 4. Oktober sei nicht als «illegale Demonstration» zu werten, sondern als ziviler Ungehorsam – also ein politisch motivierter Gesetzesbruch. Ihm sei dies als einzig verbleibende Handlungsmöglichkeit erschienen, nachdem der Bundesrat nicht auf den «Letzten Aufruf vor der Rebellion» reagiert habe. Der Klimanotstand rechtfertige die Mittel. Die gesamte Menschheit stünde vor dem Ökokollaps und wenn wir nicht sofort eingriffen, legitimierten wir den kollektiven Selbstmord, sagt er mit eindringlicher, zuweilen sich überschlagender Stimme. Es brauche einen System Change, also eine umfassende Änderung der Verhältnisse. Dafür habe er den Gerichtsprozess in Kauf genommen, der «weniger schlimm ist als die Klimakatastrophe».

Sein Verteidiger setzt in seinem einstündigen Plädoyer noch ein paar Scheitchen obendrauf. «Es steht schlimm um die Welt», beginnt er. Der Klimakollaps sei eine Realität. «Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle – mit dem Fuss auf dem Gaspedal», zitiert er den UN-Generalsekretär António Guterres. Unter den 40 000 Angestellten der Bundesverwaltung habe sich nicht ein Mensch gefunden, der auf den Brief von «Extinction Rebellion» reagiert habe. «Es ist ihnen scheissegal, auf gut Deutsch», echauffiert sich der Verteidiger. Der Bundesrat interessiere sich nicht für das Überleben der aktuellen Bevölkerung und der zukünftigen Generationen. Die Regierung biete der Bevölkerung keinen Schutz vor der Klimakatastrophe. Es liege ein klarer Notstand vor. Das Gesuch um eine Bewilligung für eine Demonstration an der Bahnhofstrasse sei ohne Begründung abgelehnt worden, was willkürlich sei. Aber auch unbewilligte Demos stünden unter dem Schutz der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit. Niemand sei genötigt worden, andere Verkehrswege seien offen gewesen. Sein Mandant sei vollumfänglich freizusprechen.

Der Richter erteilt Martin das Schlusswort. Der promovierte Philosoph nutzt es, um während gut einer halben Stunde eine Lektion über Rechtsphilosophie zu halten. Im Publikum macht sich Unruhe und unterdrücktes Gähnen breit. Er schliesst mit der Ansage, dass er opferbereit weiterkämpfen werde. Applaus und Klopfen auf die hölzerne Sitzfläche.

Nach einer einstündigen Beratung fällt der Einzelrichter das Urteil: Martin wird der Nötigung schuldig gesprochen und mit 15 Tagessätzen zu 90 Franken bestraft, bedingt auf zwei Jahre. Ausserdem muss er für die entstandenen Verfahrenskosten und Gebühren aufkommen. Der Richter erklärt, er könne die Teilnahme an der illegalen Demonstration nicht aufgrund der Sympathie für das Anliegen beurteilen, sondern sei an die Rechtsprechung gebunden. Der Tatbestand der Nötigung sei klar und objektiv erfüllt. Die Versammlungsfreiheit hätte auch an verkehrsfreien Plätzen wahrgenommen werden können. Ein Notstand könne nur geltend gemacht werden, wenn eine unmittelbare und nicht anders abwendbare Gefahr vorliege. Hier fehle es im Sinne des Gesetzes an beidem.

Der Verteidiger kündigt noch vor Gericht Berufung an. Das Urteil ist somit nicht rechtskräftig. Aus dem Publikum ruft jemand: «Wir gehen bis nach Strassburg.»

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