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Michael Gebhard führt trotz Schwerhörigkeit ein normales Leben. Der 42-Jährige Familienvater arbeitet als Archivar im Zürcher Stadthaus. Bild: GH

Plötzlich hörte er die Uhr ticken

Von: Ginger Hebel

25. Februar 2020

Schwerhörigkeit:  Lange glaubte Michael Gebhard, wenn er sich anstrenge und ganz genau hinhöre, würde er schon alles verstehen – doch dem war nicht so. Heute kann er zu seinem Hörgerät und seiner Schwerhörigkeit stehen und führt ein normales Leben. Der 42-Jährige ist dreifacher Familienvater und arbeitet im Zürcher Stadthaus. 

Michael Gebhard unterhält sich mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Stadthaus, sie diskutieren, tauschen sich aus, ganz normal. Doch der 42-Jährige ist seit Geburt schwerhörig. Ohne sein Hörgerät wäre eine Unterhaltung nicht möglich, «ohne Hörgerät höre ich so gut wie nichts.» Seit acht Jahren ist Michael Gebhard als Records Manager (Archivar) in der Stadtkanzlei tätig. «Durch meinen Job bin ich nah dran an der Stadt und dem Zeitgeschehen, das gefällt mir.» Er studierte Geschichte in Zürich, da er sich schon immer für historische und politische Themen interessierte, auch für die Geschichte der Gehörlosen- und Schwerhörigen­organisationen. «In der Stadtkanzlei arbeite ich in einem hilfsbereiten Team, das einander gegenseitig unterstützt und mitträgt.»

Sein Selbstbild bekam Risse

Dass er nicht gut hören kann, merkte er schon früh. Als er als Fünfjähriger sein erstes Hörgerät bekam, hörte er plötzlich das Tram quietschen und die Uhr seines Vaters ticken, Geräusche, die er nicht kannte. Lange glaubte er, wenn er sich wirklich anstrenge und ganz genau hinhöre, dann würde er schon alles verstehen. Zu Universitäts-Zeiten musste er sich dann jedoch selber eingestehen, dass diese Selbstwahrnehmung nicht ganz der Realität entspricht. «Mein Selbstbild bekam plötzlich Risse. Ich fragte mich, wenn ich nicht hörend bin, was bin ich dann?» Er musste sich ein Stück weit neu erfinden und seine Persönlichkeit neu definieren.

Sein Hörgerät ist dezent und technisch ausgereift. Die IV bezahlt alle sechs Jahre neue Geräte. «Es kann aber sein, dass bereits früher keine Ersatzteile mehr lieferbar sind. Ich kann alte Geräte also nicht durchgehend tragen und muss mich immer wieder auf neue einstellen», erklärt Gebhard. Die Einstellungsphase sei jeweils besonders heikel. Weil er eine schwere Form von Schwerhörigkeit hat, seien auf dem Markt nur wenige Geräte mit der erforderlichen Leistungsstärke erhältlich. «Ein Hörgerät kauft man nicht sofort, das ist ein Prozess über mehrere Wochen, weil Feinanpassungen nötig sind.»

Michael Gebhard lebt trotz Schwerhörigkeit ein normales Leben. Seine drei Kinder wissen, dass er sie nur hören kann, wenn er das Hörgerät einschaltet, «nachts höre ich nichts. Wenn sie mir am nächsten Morgen etwas erzählen wollen, dann müssen sie warten, bis der Papi Ohren hat», sagt er lächelnd. Mit «Ohren» meinen die Kleinen sein Hörgerät. In gewissen Situationen, sagt Gebhard, empfinde er das Nichthören sogar als Entlastung. «Wenn ich durch den Zürcher Bahnhof schreite, schalte ich das Hörgerät bewusst aus – und somit auch den Lärm.»

 «Es ist nachgewiesen, dass die Augen beim Hören helfen»

Für viele ältere Menschen ist das Hören eine Strapaze. Lässt sich das Gehör trainieren?
Jolanda Galbier: Einer Hörminderung lässt sich im besten Fall vorbeugen, indem man das Gehör schützt. Eine bereits erfolgte Hörminderung lässt sich aber nicht wiederherstellen. Die gute Nachricht ist, dass man die Möglichkeit hat, diese mithilfe eines Hörgeräts zu verbessern – in den letzten Jahren gab es viele technische Fortschritte. Zusätzlich empfehlen wir ein Hörtraining mit Lippenlesen. Es ist nachgewiesen, dass die Augen beim Hören helfen.

Wie macht sich eine Hörminderung als Erstes bemerkbar?
Hörminderungen erfolgen meist schleichend. Typische Anzeichen sind, wenn man dem Gespräch nicht mehr richtig folgen kann, zum Beispiel im Restaurant, oder wenn man den Fernseher oder das Radio immer lauter stellen muss. Die Wahrscheinlichkeit für eine Schwerhörigkeit steigt mit dem Alter stark an. Gut ein Drittel der über 60-Jährigen ist von einem altersbedingten Hörverlust betroffen. Bei der Generation 70+ sind es zwei von drei. Bei den 80-Jährigen sind es über 80 Prozent. Es wird erwartet, dass mit der demografischen Entwicklung und den geburtenstarken Jahrgängen, die zwischen 2020 und 2035 ins Pensionsalter kommen, Altersschwerhörigkeit ein noch grösseres Thema sein wird.

Wie entstehen Hörprobleme?
Hören ist ein komplexes, hochpräzises Zusammenspiel verschiedener (Kleinst-)Organe im Ohr und dem Gehirn. Chemische Substanzen können eine Hörminderung verursachen, aber auch gewisse Infektionskrankheiten, starke Lärmeinwirkungen oder die Genetik. Manche Personen haben einen Hörsturz, bei welchem die Hörminderung plötzlich und stark auftritt – viele haben als Symptom des Hörsturzes auch einen Tinnitus. Wer nicht sicher ist, wie es um das eigene Gehör steht, dem empfehlen wir den Telefon-Hörcheck von Pro Audito (Info-Box, unten).

Wann braucht es ein Hörgerät?
Wenn der HNO-Arzt anhand der Ergebnisse verschiedener Hör- und Verständnistests ein Hörgerät empfiehlt. Dieses sowie die Fähigkeit, Lippen zu lesen, bringt viel Lebensqualität zurück und beugt der sozialen Isolation vor. Je länger man wartet, desto eher beginnt das Gehirn abzubauen und wir haben mehr Mühe, das Gehörte wieder zu verarbeiten und zu verstehen.

Auch junge Menschen haben Probleme mit den Ohren. Warum?

Jede Person kann einen Hörverlust oder auch einen Tinnitus erleiden, unabhängig vom Alter. Es können genetische Faktoren eine Rolle spielen, Krankheiten oder auch eine übermässige Lärmexposition.

Wie gefährlich ist laute Musik aus Kopfhörern wirklich?
Neben der Lautstärke ist immer auch die Dauer der Lärmexposition wichtig. Pro Audito rät, sich an die Empfehlungen des Bundesamtes für Umwelt respektive der SUVA zu halten. Bei Konzertbesuchen oder ähnlichen Veranstaltungen empfehlen wir, das Gehör mit Ohropax zu schützen.

Tinnitus, dieses Pfeifen und Rauschen im Ohr. Warum entsteht es?
Die Ursachen für einen Tinnitus sind nicht abschliessend erforscht. Man geht davon aus, dass er als Folge eines Hörverlusts entsteht. Werden Haarzellen im Innenohr geschädigt – zum Beispiel durch eine Ohrenentzündung, Lärm oder Stress – kommen in der Hörrinde des Gehirns für bestimmte Frequenzen keine Signale mehr an. Das Gehirn gleicht die fehlenden Frequenzen aus und erzeugt ein chronisches Ohrgeräusch
(Info-Box).

Was lässt sich dagegen tun?

Bei einem anhaltenden Hörgeräusch sollte man möglichst bald einen Arzt aufsuchen. Bei einem akuten Tinnitus (die ersten drei Monate) wird in der Regel eine medikamentöse Therapie verschrieben. Sie zeigt eine Wirksamkeit von 70 Prozent. Die Therapierbarkeit bei einem chronischen Tinnitus ist umstritten. Es hat sich aber gezeigt, dass verschiedene Behandlungsmethoden (Entspannungstechniken, Hörgeräte) das Leiden lindern können.

Welttag des Hörens

Am 3. März jährt sich der Welttag des Hörens zum 10. Mal. Die Selbsthilfeorganisation Pro Audito setzt sich dafür ein, dass rund 1,3 Millionen Menschen mit einem Hörproblem in der Schweiz gut versorgt sind und integriert bleiben. Pro Audito Zürich bietet Kurse wie Hörtrainings und Lippenlesen an. Zudem gibt es einen Telefon-Hörcheck.
Hörtest: Tel: 0900 400 555

Tinnitus - und jetzt?

Am Dienstag, 3. März, von 17 bis 20.45 Uhr, findet im Hörsaal des Universitätsspitals Zürich ein Informationsabend rund ums Thema Tinnitus statt. Es werden  neue Therapieansätze, Behandlungen und Strategien zur Bewältigung vorgestellt. Die Veranstaltung richtet sich an Betroffene und Angehörige. 
www.pro-audito.ch/agenda/tinnitus-und-jetzt/

 

 

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