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Kinder reagieren auf Stress sensibel. Bild: Adobe Stock

Unsichtbare Narben

Von: Ginger Hebel

01. Februar 2022

Müde, gestresste Eltern beschimpfen und demütigen ihre Kinder. Diese wiederum leiden vermehrt unter psychischen Störungen und depressiven Verstimmungen. Von Ginger Hebel

«Du lernst das nie!», du bist zu dumm!», «du bist schuld!» Viele Eltern demütigen und beleidigen ihre Kinder. Sichtbar sind diese psychischen Misshandlungen nicht, «doch der Geist dieser jungen Menschen trägt Narben davon», warnt Georg Staubli, Leiter der Kinderschutzgruppe am Universitäts-Kinderspital Zürich. Die Experten der Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle des Kinderspitals Zürich registrierten erneut eine Zunahme der gemeldeten Verdachtsfälle von Kindsmisshandlungen: Die Zahl stieg von 592 auf 625.

Schreien und drohen

Die körperlichen Misshandlungen haben erstmals seit Jahren etwas abgenommen. Doch bei den Fällen von psychischer Misshandlung und Vernachlässigung ist eine deutliche Zunahme sichtbar. «Die Pandemie setzt Familien zusätzlich unter Druck. Viele streiten sich über die Massnahmen, über impfen oder nicht impfen, darunter leiden auch die Kinder», sagt Georg Staubli. Natürlich lasse sich nicht jede negative Entwicklung auf die Pandemie schieben, «die steigenden Zahlen sprechen aber eine deutliche Sprache», betont der Chefarzt.

Weniger Kontakte zu anderen Kindern, geschlossene Jugendzentren und fehlende Möglichkeiten zum Austausch. «Für Kinder und Jugendliche sind diese Massnahmen folgenschwer», ist Staubli überzeugt. Die gestiegene Zahl von psychischen Misshandlungen lasse zudem vermuten, dass auch die Dunkelziffer in diesem Bereich sehr hoch ist.

Beratungsstellen wie der Elternnotruf mit Sitz in Zürich berichten über viele zeitintensive Gespräche mit überforderten und erschöpften Eltern. «Heftige Eskalationen innerhalb von Familien begegnen uns häufig», stellt Martina Schmid, Beraterin beim Elternnotruf, fest. «Viele Eltern erschrecken über ihre eigenen starken Gefühle. Über Aggressionen, Wut und Enttäuschung. Sie schreien ihre Kinder an oder fangen an zu drohen, weil sie sich ohnmächtig fühlen.» Dann, wenn das Kindergartenkind seine Jacke im Winter nicht anziehen will. Der Teenager sich ins Zimmer verkriecht und nicht mehr mit den Eltern spricht oder die gemeinsamen Mahlzeiten am Familientisch zur Tortur werden, weil die Geschwisterkinder untereinander streiten und sich beleidigen. «Es gibt keine Patentlösung. Jedes Kind, jede Familie ist anders», betont Martina Schmid.

Eltern im Machtkampf

Die Experten versuchen in Gesprächen, die Mütter und Väter zu ermutigen, Muster zu durchbrechen und gemeinsam mit ihnen Lösungen zu erarbeiten. «Zum Beispiel könnte die Familie eine andere Sitzordnung ausprobieren oder eine Mahlzeit mit einem Kind allein einnehmen, damit am Tisch eine andere Stimmung erlebt wird. Die klare Haltung hat eine Wirkung: Das ist mir wichtig! Da bleiben wir dran!»

In der Kindererziehung zähle nicht, was richtig sei oder falsch, es gehe vielmehr darum, was zielführend und verbindend sei. Kinder testen Grenzen immer wieder aufs Neue. Nicht selten verstricken sich Eltern in einen Machtkampf. «Viele fühlen sich von ihren kleinen Kindern provoziert. Dabei ist ein Kind dazu gar nicht bewusst in der Lage. Es weiss aber noch nicht, wie es mit seinen Gefühlen umgehen und wie es Frust aushalten und Unlust überwinden kann», erklärt Martina Schmid. Wenn Eltern verstehen, dass die kindliche Aggression nicht auf sie gerichtet ist, können sie in angespannten Situationen anders reagieren. «Ein Kind ist abhängig von seinen Eltern. Darum ist es wichtig, dass es diese Sicherheit spürt und weiss, dass es sich immer auf die Eltern verlassen kann.»

Psychischer Stress

Die Krise hat viele Beziehungen auf die Probe gestellt oder zum Scheitern gebracht. «Wenn Eltern immer wieder vor den Kindern streiten, führt dies zu psychischem Stress. Kinder reagieren darauf sensibel», sagt Georg Staubli. Die Notfälle von Jugendlichen mit psychischen Problemen haben um das Dreifache zugenommen im Vergleich zu den Vorjahren. Viele Kinder- und Jugendpsychiatrien sind belegt, auch das Kinderspital Zürich hat im letzten Jahr vermehrt Jugendliche wegen Suizidversuchen und Angststörungen betreut, oft haben sie einen Missbrauch erlebt. Georg Staubli: «Vielen jungen Menschen geht es derzeit nicht gut. Es ist auch die Aufgabe der Gesellschaft, Gegensteuer zu geben, hellhörig zu sein und hinzuschauen.»

Weitere Informationen:

www.kispi.uzh.ch

www.elternnotruf.ch

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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