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Brando (Name geändert) hat in seinem Leben viel Gewalt erlebt. In der Notschlafstelle Nemo findet er Obhut und Schutz.

Vertrieben von zu Hause

Von: Ginger Hebel

31. Mai 2022

Im Nemo finden Jugendliche und junge Erwachsene in Notsituationen Obdach, Schutz und Sicherheit. Hier können sie sich erholen von der elterlichen Gewalt und vom erschöpfenden Leben auf der Strasse. 

Brando (Name geändert) beisst in ein Sandwich. Er würde in der Notschlafstelle Nemo auch eine warme Mahlzeit bekommen, aber er isst derzeit lieber Brot. Der 17-Jährige ist müde. Um sieben Uhr ist Weckzeit. Aber wenigstens kann er schlafen ohne Angst. In der Notschlafstelle findet er Schutz und Sicherheit, darf duschen und Kleider waschen, die wenigen, die er mitgenommen hat. Seit sechs Wochen schläft er im Nemo. Er hat hier Raum und Zeit, um über seine Situation nachzudenken. Zurück nach Hause will er nicht.

Brando wurde von seinen Eltern geschlagen. Immer wieder. Schlimmer als die Schläge aber seien die verbalen Demütigungen. Das Gefühl, nicht geliebt zu werden. Ein Problem zu sein. Ein Versager. «Das verletzt mich. Ich habe zu viel Gewalt erlebt daheim. Darum bin ich hier.» Er spricht ruhig und überlegt. Manchmal schwingt in seinen Worten aber auch Unsicherheit mit. Unsicherheit davor, was die Zukunft bringt. Eine Zukunft, die vage scheint, weil Stabilität in seinem Leben fehlt.

Die Notschlafstelle Nemo vom Sozialwerk Pfarrer Sieber bietet Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 16 und 23 Jahren in Krisensituationen ein Obdach, Sicherheit und eine Struktur. Sie erhalten die Chance, sich vom erschöpfenden Leben auf der Strasse zu erholen und ihre Situation zu verbessern. Von Mitarbeitenden werden sie gezielt motiviert und begleitet bei der Suche nach geeigneten Anschlusslösungen wie betreute Wohnenformen, WG-Zimmer oder Suchthilfeeinrichtungen.

Immer mehr 14-Jährige

Die 37-jährige Darja Baranova leitet Nemo.Das Team besteht aus zehn Fachpersonen, die immer mindestens zu zweit im Nemo im Einsatz sind. Auch Seelsorger kümmern sich um die Anliegen der Jugendlichen. Darja Baranova weiss, was für die jungen Menschen in dieser Ausnahmesituation wichtig ist: Zeit und ehrliche Anteilnahme. Dass man ihnen zuhört, wenn sie reden wollen. Sie aber nicht dazu zwingt. «Die Not zwingt sie dazu, ins Nemo zu kommen, weil sie es daheim nicht mehr aushalten. Dennoch dürfen sie frei entscheiden, ob sie bei uns schlafen wollen oder nicht. Diese Freiwilligkeit ist eine gute Basis. Daraus kann Vertrauen wachsen», sagt Baranova. Die Jugendlichen seien oft sehr sensibel. Sie spüren genau, ob man sich für sie interessiert oder nicht.

1786 Übernachtungen zählte das Nemo letztes Jahr, Tendenz steigend. Normalerweise nimmt die Notschlafstelle Jugendliche ab 16 auf. In letzter Zeit werden die Gäste aber immer jünger. «Die Polizei bringt uns auffallend viele 14-Jährige. Wir nehmen sie auf, weil sämtliche Institutionen überbelegt sind», sagt Baranova. Es ist eine unschöne Entwicklung. «Dass so viele Jugendliche in die Notschlafstelle kommen, zeigt die grosse Überforderung in der Gesellschaft.» Bara­nova glaubt, dass nicht nur die Pandemie ausschlaggebend ist. «Probleme waren meist schon vorher da. Aber Corona hat alles beschleunigt und Situationen verschärft.»

Die zehn Plätze sind derzeit alle belegt. Manche Jugendliche bleiben ein paar Nächte, andere drei Monate. Es sind mehr Jungs als Mädchen, weil es für sie auch noch andere Institutionen gibt wie das Mädchenhaus oder Schlupfhuus. Oft flüchten sich die jungen Mädchen aber auch in Beziehungen. Einfach nur, um wegzukommen von zu Hause. Das Nemo ist täglich von 20 bis 8.30 Uhr geöffnet. Einlass ist zwischen 20 und 22.30 Uhr. Neuaufnahmen sind während der ganzen Nacht möglich. Immer wieder klingelt die Polizei an der Tür und bringt gestresste und geschockte junge Menschen, die daheim nicht mehr wohnen können, weil es die Situation im Elternhaus nicht mehr zulässt. «Gewalt in der Familie betrifft alle Schichten», weiss Baranova. Auch Kinder bekannter Personen finden hier Unterschlupf, sie stehen alle unter Datenschutz. «Die Zusammenarbeit mit der Polizei und anderen Fachorganisationen ist sehr gut. Dafür sind wir dankbar.»

 

Die Notschlafstelle ist seit 2017 in einem ehemaligen Pfarrhaus der reformierten Kirche im Triemli-Quartier untergebracht. Es gibt einen wohnlich eingerichteten Aufenthaltsbereich mit Sofas, einen Garten mit Blumen, geschlechtergetrennte Duschräume und Mehrbettzimmer sowie Schliessfächer im Keller. Für Beratungen steht ein eigens dafür eingerichteter Raum zur Verfügung.

Brando sitzt im Garten. Er erzählt, dass es auch schöne Momente gab in seiner Kindheit. Die negativen Erlebnisse jedoch haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Weil Gewalt immer Spuren hinterlässt. Im Kopf und in der Seele.

Die Jugend ermächtigen

Im Nemo spielen sie Tischfussball. Oder das Kartenspiel Uno, das mag auch Brando gern. Abends essen sie gemeinsam. Gehacktes mit Hörnli. Fisch mit Kartoffeln. Die abwechslungsreichen Mahlzeiten werden in der Küche der Sozialbetriebe Christuszentrum vorbereitet und in die Notschlafstelle gebracht. Ohne finanzielle Unterstützung, Freiwilligenarbeit und Essens- und Kleiderspenden würde es das Nemo genau wie viele andere sozialen Einrichtungen nicht geben. Darja Baranova arbeitet seit 2011 für die Stiftung Pfarrer Sieber. Nemo war zu Beginn ein Unterprojekt des Gassencafés Sunestube im Langstrassenquartier. In Zürich gab es damals eine grosse Punk­szene, darunter viele Minderjährige und Bedürftige. Weil die Jugendlichen nirgends schlafen konnten, gründeten die Sozialwerke Pfarrer Sieber eine Notschlafstelle für die junge Zielgruppe. Gestartet wurde in einer kleinen Wohnung, doch weil immer mehr Anfragen kamen, suchte man schliesslich ein Haus. Darja Baranova ist mitgewachsen mit dem Betrieb. Die Arbeit sei sinnstiftend und befriedigend, wenn auch nicht immer einfach. «Suchtprobleme, traurige Schicksale, häusliche Gewalt. Es gibt in unserer Gesellschaft viele Probleme. Aber auch Lösungen und Hoffnung.»

Nemo war lange die einzige Anlaufstelle dieser Art schweizweit. Seit 2020 entwickelt auch der Berner Verein «Sichere Träume» niederschwellige Projekte, um junge Menschen in Notsituationen zu unterstützen. Seit vergangenem Freitag betreibt der Verein das Angebot Pluto «Notschlafstelle für junge Menschen in Bern». Brando hätte gerne wieder eine Perspektive. Seine Lehrstelle hat er verloren, weil er eine Woche lang nicht mehr zur Arbeit erschienen war. Weil die Situation zu Hause mal wieder eskalierte, worauf er in eine Depression fiel. Sein Chef hatte dafür wenig Verständnis. «Das ist dumm gelaufen», sagt Brando. «Wenn die Wohnsituation nicht geklärt ist, dann steht eine Lehrstelle erst mal nicht im Vordergrund. Was die Jugendlichen brauchen, ist Stabilität», erklärt Nemo-Leiterin Darja Baranova.

Zusammen mit ihrem Team motiviert sie die Jugendlichen und ermächtigt sie, ihren eigenen Weg zu gehen. «Das ist wichtig, dass wir sie vorbereiten aufs Leben nach Nemo. Dazu gehört auch ein gutes Selbstwertgefühl. Das fehlt leider vielen Jugendlichen, weil sie nicht wertgeschätzt wurden.»

Auch Brando wird irgendwann weiterziehen. Er wird vielleicht nicht immer mit dem Strom schwimmen, aber hoffentlich die richtige Richtung einschlagen.

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

Die Notschlafstelle Nemo im Zürcher Triemli-Quartier bietet Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Notsituationen Obdach, Schutz und Sicherheit. Das Angebot richtet sich an Personen beiderlei Geschlechts zwischen 16 und 23 Jahren mit einem geklärten Aufenthaltsstatus. Nebst der Beherbergung können sie das Angebot der internen Sozialberatung in Anspruch nehmen. Dabei werden sie gezielt motiviert und begleitet bei der Suche nach geeigneten Anschlusslösungen.

Notschlafstelle Nemo
Döltschiweg 177, 8055 Zürich
Tel. 043 336 50 20

www.nemohilft.ch

www.swsieber.ch/jugendliche

 

 

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