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Matthias Herren ist Stellenleiter der Dargebotenen Hand. Der ehemalige Pfarrer chattet anonym mit Menschen in Lebenskrisen.

Wenn die Seele traurig ist

Von: Ginger Hebel

27. August 2019

Dargebotene Hand: Das neue Chat-Angebot des Sorgentelefons ist sehr gefragt. Darum werden neue Chat-Beraterinnen und -Berater gesucht, die sich der Ängste und Probleme der Mitbürger annehmen.

Hanna* ist jung, erfolgreich und einsam. Zugeben tut sie es ungern, weil sie sich für dieses Gefühl schämt. Im Alltag kann sie ihre Gefühle gut kontrollieren, aber daheim fällt ihr oft die Decke auf den Kopf. Besonders abends, wenn die dunklen Gedanken sie überrollen wie ein Schnellzug. Dann chattet sie. Anonym. Mit der Dargebotenen Hand.

Beim Schweizer Sorgentelefon – Tel. 143 – klingelte es letztes Jahr eine Viertelmillion Mal. Seit Januar ist auf www.143.ch täglich von 10 bis 22 Uhr ein Chat-Fenster offen. «Das Angebot wird hauptsächlich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen genutzt, ein Drittel ist unter 18 Jahre alt. Die grosse Nachfrage übersteigt unser Angebot», sagt Stellenleiter Matthias Herren.

Ratschläge sind Schläge

Viele Ratsuchende müssen lange warten, bis eine Beraterin oder ein Berater frei ist, oder sie können gar nicht berücksichtigt werden. Aus diesem Grund sucht die Dargebotene Hand freiwillige Chat-Beraterinnen und -Berater. In einem viermonatigen Kurs werden sie theoretisch und praktisch in die Onlineberatung eingeführt. «Wir wählen die Bewerber sorgfältig aus», betont Herren. Die gesuchten Personen sollten über eine Ausbildung oder ausgewiesene Erfahrung in der psycho-sozialen Beratung verfügen und Interesse am Chatten haben. «Emotionale Stabilität ist wichtig», betont Herren. «Chat-Beraterinnen und -Berater müssen mit sich selber im Reinen sein und mit den eigenen Kräften haushalten können.» Auch eine klare Ausdrucksweise sei von Vorteil. «Gefragt sind keine komplizierten Sätze, sondern eine verständliche, direkte Sprache», sagt Herren.

Hanna* hat mit dem neuen Chat-Angebot gute Erfahrungen gemacht. Die Anregung, an schlechten Tagen nicht neidisch auf die anderen zu schauen, sondern sich selber etwas Gutes tun und lernen, sich lieb zu haben, gefällt ihr. Nicht auf die Gunst anderer Menschen angewiesen zu sein. Rausgehen, bevor ihr die Decke auf den Kopf fällt, auch wenn gerade kein Mensch Zeit für sie hat. Sich neu inspirieren lassen vom Leben. Im Chat melden sich viele junge Mädchen. Sie ritzen sich, weil sie dem Druck in der Schule nicht standhalten können, weil sie Angst vor Versagen und Misserfolg haben. Weil der Zoff mit dem Freund am Selbstvertrauen nagt. Es melden sich Frauen, die mitten im Leben stehen. Die sich wertlos fühlen, weil sie vom Partner geschlagen wurden. Bei der Dargebotenen Hand können sie sich anonym ihre Angst und ihren Frust von der Seele reden oder schreiben.

Erwiesenermassen sind es mehr Frauen als Männer, die Hilfe suchen. «Es fällt ihnen leichter, über Gefühle zu sprechen. Männer fressen ihre Sorgen häufig in sich hinein», sagt Herren. Hin und wieder komme es vor, dass verzweifelte Menschen Abschiedsbriefe in den Chat kopieren. Mit solchen Situationen umzugehen, sei auch für die geschulten Beraterinnen und Berater schwierig und belastend. Ein falsches Wort kann verheerend sein. Ratschläge, betont Matthias Herren, würden die Mitarbeitenden der Dargebotenen Hand daher bewusst nicht erteilen. «Man sagt nicht umsonst, Ratschläge wirken wie Schläge, das ist oft kontraproduktiv.» Viel wichtiger sei es, die Probleme des Gegenübers ernst zu nehmen und dessen Wut, Trauer und Schmerz auszuhalten. «Wir verurteilen niemanden. Wir sind einfach da, hören zu und telefonieren oder chatten mit ihnen.»

Matthias Herren ist seit 1. Januar 2019 Stellenleiter der Dargebotenen Hand und Nachfolger von Tony Styger, der nach 18-jährigem Dienst in Pension ging. Er arbeitete früher 11 Jahre als Pfarrer in Rafz. «Ich war damals oft mit Tod und Abschied konfrontiert. Bei der Dargebotenen Hand sind es viel mehr Tabu-Themen wie Einsamkeit und Suizidalität.»

Bei den zwölf Regionalstellen arbeiten freiwillige Beraterinnen und Berater zwischen 25 und 70 Jahren. «Es ist gut möglich, dass ein Jugendlicher in der Chat-Beratung mit einer Person schreibt, die der Grossvater oder die Grossmutter sein könnte», sagt Herren. Er stellt jedoch fest, dass es manchem Jugendlichen ein Anliegen ist, nicht nur mit Gleichaltrigen über Prob­leme zu reden, sondern mit einer Person mit Lebenserfahrung, die ­andere Sichtweisen aufzeigen und Anregungen geben kann.

* Name der Redaktion bekannt.

Weitere Informationen: Chat-Beraterinnen und -Berater ­gesucht: Anmeldeschluss ist der 30. September. zuerich.143.ch/Mitmachen/

 

 

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