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Rund 50 Demonstrierende versammelten sich mit Protestschildern vor der Messehalle, wo der Gemeinderat tagt. (Bild: Christian Saggese)

«Wir wollen kein Roulette um Alterswohnungen spielen»

Von: Christian Saggese

20. Juli 2021

Keine Warteliste mehr, sondern eine Auslosung: Der Stadtrat möchte bei der Vergabe der Alterswohnungen ein neues System einführen. Viele Seniorinnen und Senioren fühlen sich von einem «Zufallsgenerator» aber im Stich gelassen und haben kürzlich mit einer Demonstration auf ihr Anliegen aufmerksam gemacht. Stadtrat Andreas Hauri verspricht, die Bedenken ernst zu nehmen und bei der weiteren Planung einfliessen zu lassen. 

Zürcher Seniorinnen, Senioren und deren Angehörige haben genug: Ausgerüstet mit Trillerpfeifen und Plakaten, versammelten sich letzte Woche rund 50 Personen vor der Messehalle in Oerlikon, um dort die Aufmerksamkeit des Gemeinderates friedlich, aber mit voller Lautstärke auf sich zu ziehen. Auf den Schildern der Protestierenden standen Sprüche wie «Lotterie? Nie nie nie!», «Zürich will seine Alten durch den Zufallsgenerator jagen» oder auch «Gerechtigkeit statt Glücksrad».

Grund für die Kundgebung war die Ankündigung des Stadtrats, dass die Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich (SAW) das Anmeldeverfahren für ihre Alterswohnungen anpassen werde. Ursprünglich sollte bereits diesen Oktober das bisherige Warteliste-System durch ein Auslosungsverfahren ersetzt werden. Die Öffentlichkeit erfuhr im letzten Mai von diesen Plänen. Über 100 briefliche Beschwerden gingen daraufhin bei den Behörden ein, weshalb der Stadtrat zwischenzeitlich beschlossen hat, noch drei Jahre mit dem Systemwechsel zu warten. Vom Tisch ist das Thema aber noch nicht.

Eine zeitliche Perspektive

Die SAW bietet in der Stadt Zürich 2077 preisgünstige Alterswohnungen an. Bis dato können sich die älteren Mitbürger für eine solche Wohnung bewerben und hierbei ihre drei favorisierten Siedlungen angeben. Sie gelangen daraufhin auf eine Warteliste. Auf dieser befinden sich derzeit um die 4000 Personen. Da jährlich um die 200 Wohnungen frei werden, kann die Wartezeit also durchaus 20 Jahre betragen. Und ob dann auch wirklich eine Wohnung in der gewünschten Siedlung freisteht, ist nicht garantiert.

Dennoch ist die Warteliste für die Protestierenden noch immer die deutlich bessere Lösung als das nun vorgesehene Auslosungssystem. Bei Gesprächen während der Demo kristallisierte sich schnell heraus, dass sich hier viele Menschen mit schwierigen Einzelschicksalen befinden, die aber ein gemeinsames Ziel verfolgen: Sie wollen selbst bestimmen, wo sie ihren letzten Lebensabschnitt verbringen möchten. Und vor allem wünschen sie sich eine zeitliche Perspektive. Lieber warten sie 20 Jahre lang und wissen, wie es für sie weitergeht, als bei einem «Roulette um eine Alterswohnung mitzuspielen», wie es Monika Bührer ausdrückt. Monika Bührer steht seit fünf Jahren auf der Warteliste und hat die Demo lanciert. Für sie besteht die Gefahr, dass das Auslosungsverfahren «hunderte alte Menschen in Verzweiflung und Depression stürzen wird». So sieht es auch Rahel Hutmacher, die mit Monika Bührer gemeinsam die Kundgebung leitete. Rahel Hutmacher erfuhr nach zehn Jahren auf der Warteliste, dass sie unter den nächsten Anwärterinnen für eine Alterswohnung sei. Nun, kurz vor ihrem 80. Geburtstag, drohe dieser Traum zu platzen, sagt sie bedrückt. Und für «Tagblatt»-Leserin Verena Liechti Gamper, die ihre Bedenken nach der Kundgebung bei dieser Zeitung platzierte, sei «der Entscheid zum Zufallsprinzip, zum digitalen Wohnungsrennen für Senioren, realitätsfremd und altersverachtend».

Warteliste abbauen?

Stadtrat Andreas Hauri, der von Amtes wegen der SAW vorsteht, stellte sich an der Kundgebung den Demonstrierenden, zeigte Verständnis und versprach, nochmals über die Bücher zu gehen. Auch auf Anfrage hin betont der GLP-Politiker, dass er die Verunsicherungen und die vielen Reaktionen, die durch die Ankündigung erfolgt seien, sehr ernst nehme. «Es tut mir auch leid. Aus diesem Grund haben der Stiftungsrat und ich beschlossen, die Zeit bis zur Einführung des neuen Verfahrens auf drei Jahre, bis zum 30. Juni 2024, zu verlängern.» Mit der Verlängerung der Übergangsfrist soll insbesondere jenen Angemeldeten entgegengekommen werden, die schon lange auf der Liste eingetragen sind und kurz vor einem Wohnungsangebot stehen.

Generell sei für Andreas Hauri die Warteliste aber keine zeitgemässe Lösung mehr: «Die Warteliste vermittelt eine falsche Sicherheit auf ein Angebot, das leider nicht in genügender Menge vorhanden ist. Ich und der Stiftungsrat wollen nicht mit den Erwartungen und Hoffnungen der Menschen spielen, sondern transparent über das vorhandene Angebot und die Wahrscheinlichkeit für eine Wohnung informieren», betont er. «Wir wollen den Weg zur Alterswohnung auch nicht erschweren, wir wollen ihn flexibler gestalten und die Chancengleichheit erhöhen.» Mit der Chancengleichheit spricht er das Problem an, dass diejenigen, die es, aus welchen Gründen auch immer, verpasst haben, sich in die Liste einzutragen oder mit Anfang 60 noch gar nicht an eine Alterswohnung gedacht haben, «dadurch eine schlechtere oder fast gar keine Chance mehr auf eine Wohnung erhalten.» Die Warteliste entspreche derzeit einem «Wer zuerst kommt ...»-Grundsatz «und nicht irgendeinem gerechten oder gar sozialen Mechanismus».

Wäre es aber nicht fair, die aktuelle Warteliste zuerst abzubauen, bevor ein Systemwechsel in Betracht gezogen wird? «Wollten wir erst die Warteliste komplett abarbeiten, so würde das beim heutigen Angebot 15 bis 20 Jahre dauern», rechnet Andreas Hauri vor. «Zudem müssten wir jetzt die Wartelisten schliessen und niemand sonst hätte in dieser Zeit eine Chance auf eine Alterswohnung, das ist nicht gerecht.»

Kein Internet notwendig
Wie läuft dieses künftige Auslosungsverfahren konkret ab? «Ab Juli 2024 werden alle freiwerdenden Wohnungen öffentlich ausgeschrieben und alle Interessierten, welche die Kriterien erfüllen, können sich anmelden. So kann man sich auf alle Wohnungen, die für einen in Frage kommen, bewerben», erklärt der GLP-Stadtrat. Danach wird ausgelost.

Angekündigt wurde der Systemwechsel mit Werbung für eine neue digitale Vermietungsplattform der SAW. Dies verunsicherte ebenfalls viele Seniorinnen und Senioren, vor allem jene, die keine technikaffinen Verwandten oder Freunde haben. Es brauche für das neue System aber kein Internet, verspricht Andreas Hauri: «Die SAW wird ihr Beratungs- und Unterstützungsangebot in den Siedlungen und Quartieren kontinuierlich ausbauen. Insbesondere ältere Menschen ohne Internetzugang oder -kenntnisse werden auf den Umgang mit dem neuen Bewerbungsverfahren vorbereitet und eng begleitet. Es sind zum Beispiel Sprechstunden und Kurse in den Siedlungen und im Quartier geplant, sodass sich ältere Menschen nahe ihres Wohnortes individuell beraten und unterstützen lassen können. Und es wird auch immer die Möglichkeit bestehen, sich telefonisch oder am Schalter für eine Wohnung anzumelden».

Es fehlt an Wohnungen

Aber egal, welches System letztlich wirklich zum Einsatz kommt, es gibt ein generelles Problem. Es fehlt in der Stadt Zürich nämlich an genügend Wohnraum, um den effektiven Bedarf zu decken. Andreas Hauri: «Mehr zahlbare Alterswohnungen sind daher ein zentrales Anliegen unserer Altersstrategie. Wir überprüfen bei allen Sanierungen, ob wir die Anzahl Wohnungen erhöhen können. Dies gelingt meistens». In den nächsten Jahren seien einige grössere Projekte geplant, so entstehen beim Neubau Thurgauerstrasse 200 oder beim Neubau der Wohnsiedlung Letzi 130 zusätzliche Alterswohnungen, nur um zwei Beispiele zu nennen. Letztlich könne aber nicht die SAW alleine das notwendige Kontingent abdecken, «deswegen braucht es hier ganz klar auch das Commitment aller Wohnungsanbieter».

Der Grund, warum die Kundgebung überhaupt vor dem Gemeinderat stattfand, war übrigens ein Postulat, das von Vertreterinnen und Vertretern der AL, EVP und SP eingereicht worden war und an jenem Abend behandelt wurde. Verlangt wird in diesem, dass der Stadtrat die geplante Löschung der Warteliste sistiert und einen Vermietungsprozess einführen soll, der den Bedürfnissen älterer Menschen angepasst ist. Das Postulat wurde deutlich mit 77 zu 28 Stimmen überwiesen. Hauri: «Der Stadtrat prüft nun, ob und wie die Anliegen des Gemeinderats aufgenommen werden können, und wird innerhalb der gesetzlichen Frist von zwei Jahren das Ergebnis dieser Prüfung vorlegen. Wir haben auch die Bedenken der älteren Bevölkerung gehört und werden diese ebenfalls in die Prüfung einfliessen lassen».

Anlässlich der Kundgebung sprach Andreas Hauri auch davon, wie ihn die vielen Einzelschicksale persönlich berührt hätten. Doch er bleibt optimistisch: «Trotz der schwierigen Umstände werden wir eine gerechte Lösung finden».

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