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Ombudsmann Pierre Heusser vermittelt zwischen Bürgern und Stadtverwaltung. Bild: GH

Wut entsteht aus Ohnmacht

Von: Ginger Hebel

26. Oktober 2021

Spannungen am Arbeitsplatz haben in Zürich zugenommen. Pierre Heusser leitet die älteste Ombudsstelle der Schweiz. Er fördert ein besseres gegenseitiges Verständnis.

Der Eingang der Ombudsstelle ist unauffällig, neben Geschäften und Restaurants im Oberdorf. «Das ist wichtig, um die Privatsphäre der Personen zu schützen», sagt der Zürcher Ombudsmann Pierre Heusser. Wer sich in einem Konflikt mit einer Stadtzürcher Behörde befindet, sich über die Stadtverwaltung beschweren möchte oder sich ungerecht behandelt fühlt, darf mit der Ombudsstelle kostenlos in Kontakt treten. Die Mitarbeitenden unterstehen dem Amtsgeheimnis und der Schweigepflicht.

Die Zürcher Ombudsstelle wurde am 1. November 1971 gegründet – als erste der Schweiz und erste städtische Ombudsstelle Europas. Sie entstand in der Zeit der 68er-Bewegung. Die Aufbruchstimmung in der Gesellschaft war spürbar, die Menschen hinterfragten amtliche Entscheide, nahmen eine kritische Haltung ein und lehnten sich auf. Jacques Vontobel, der erste Ombudsmann der Schweiz, sagte damals in einem Gespräch, die moderne Demokratie sei kaum denkbar ohne diese unkomplizierte, bürgerfreundliche und neutrale Stelle. Anfänglich sei die Stadtverwaltung ihm gegenüber skeptisch gewesen. Im Laufe der Zeit jedoch sei ein Vertrauensverhältnis entstanden, von dem auch zukünftige Ombudsfrauen und -männer profitieren konnten.

Pierre Heusser, 52-jähriger Rechtsanwalt, vermittelt allparteilich und auf Augenhöhe zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Stadtverwaltung und bringt sie ins Gespräch. Dabei gehe es nicht nur darum, sich einig zu werden. «Das gegenseitige Verständnis zu fördern und Klarheit zu schaffen, ist in der heutigen Zeit elementar», sagt Heusser. Im August 2020 trat er in die Fussstapfen der pensionierten Juristin Claudia Kaufmann, die das Amt 15 Jahre leitete.

Einschneidende Ereignisse

Wie aus dem ersten Jahresbericht aus dem Jahr 1971 hervorgeht, hat die Bevölkerung von der Einrichtung seit Beginn an regen Gebrauch gemacht. 154 Geschäfte gingen ein. Darunter Beschwerden über Baulärm, Beanstandungen betreffend überhöhter Heizkostenabrechnungen, ungerecht empfundene Bussen und Alimentenschulden. «Die Themen, die Menschen bewegen, haben sich in den letzten 50 Jahren kaum verändert», sagt Heusser. Verändert habe sich jedoch die Menge an Beschwerden. «Die Hemmschwelle sinkt. Bürgerinnen und Bürger getrauen sich heute eher, die Meinung zu sagen und in Opposition zu gehen.»

Letztes Jahr wandten sich 1623 Personen an die Ombudsstelle, die meisten Anfragen betrafen das Sozial- und Sicherheitsdepartement. Verwaltungsinterne Fälle – wie Spannungen am Arbeitsplatz – haben über die Jahre deutlich zugenommen. 2019 lag der Anteil bei rekordhohen 46 Prozent. Pierre Heusser hat Akteneinsicht in sämtliche Dossiers der Stadtverwaltung. Er hat jedoch keinerlei Entscheidungskompetenz, sondern vermittelt, gibt Empfehlungen ab und macht Vorschläge. Die Zusammenarbeit beschreibt der Rechtsanwalt als sehr gut. «Ich schätze an der Stadt Zürich die hohe Dienstleistungsmentalität.» In den vergangenen Jahren sind in der Schweiz weitere Ombudsstellen hinzugekommen. Viele wurden erst nach einschneidenden Ereignissen geschaffen wie im Kanton Zug nach dem Attentat im Parlament im September 2001. Im Kanton Graubünden laufen aktuell Bestrebungen für eine Meldestelle nach dem Baukartell-Skandal. Auch die Armee plant eine Schlichtungsstelle nach Vorwürfen sexueller Belästigung und Antisemitismus. Pierre Heusser begrüsst diese Entwicklung, aber: «Die Erfahrung zeigt, dass fast immer erst etwas passieren muss, bevor eine Ombudsstelle geschaffen wird».

Während es in den meisten Ländern nationale Ombudsstellen gibt, fehlt in der Schweiz eine auf Bundesebene. «Das ist sehr bedauerlich», betont Heusser. Er ist überzeugt, dass eine übergreifende neutrale Stelle nützlich wäre, zumal Themen existieren, die den Bund betreffen und nicht die kommunalen Ombudsstellen. «Die Corona-Pandemie spaltet die Gesellschaft. Wut und Aggression entsteht oft aus Ohnmacht, weil sich Menschen nicht verstanden fühlen», sagt Pierre Heusser. Bemühungen zur Schaffung einer nationalen Stelle scheiterten bisher. Der Zürcher Ombudsmann möchte sich weiterhin dafür einsetzen. «Das 50-Jahr-Jubiläum scheint mir ein legitimer Anlass zu sein, einen erneuten Vorstoss zu wagen.»

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

 

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