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Porträt

«Die Mädchen sind wie ich damals. Sie wollen nur eins: tanzen. Das macht uns glücklich.» Bild: Nicolas Y. Aebi

Ballerinas: aussen zart, innen verbohrt

Von: Clarissa Rohrbach

07. Oktober 2014

Dank Steffi Scherzer gehören die Schülerinnen und Schüler der Tanz Akademie im Toni-Areal zu den weltweit besten Nachwuchstänzer. Die ehemalige Primaballerina kombiniert Disziplin mit Leichtigkeit.

Engelsgleich springen die Mädchen in die Wolken hinauf. Hinter ihnen steht der Prime Tower, vor ihnen sitzt  Steffi Scherzer, schwarze Sportjacke, weisse Perlohrringe. Die künstlerische Leiterin der Tanz-Akademie Zürich, ehemalige Primaballerina, dürfte für die 15-Jährigen wohl so etwas wie eine Göttin sein. «Battu, battu, battu. Upper body, close girls», die Anweisung begleitet sie mit einer weichen Handbewegung. «Passt auf beim Herunterkommen, it’s not ­healthy for the knees. Nochmal.» Sie nickt unmerklich dem Pianisten zu, der für den zweiten Versuch ansetzt. Durch die Brille behält Scherzer die langen Hälse und die zierlichen Beine im Auge, kein Detail entgeht ihr. «Good girls, better, better, relax», sagt sie und lehnt sich mit einem zufriedenen, sanften Lächeln nach hinten. Die Mädchen, die vorhin so federleicht aussahen, machen angestrengte, ernste Gesichter. Auf einen Schlag hat sich die Unbeschwertheit in Luft aufgelöst, tiefes Atmen und Ehrfurcht füllen den Raum im siebten Stock des Toni-Areals.


«Tänzerinnen entführen mit ihren Bewegungen das Publikum in eine andere Welt, man darf die Anstrengung nicht sehen», erklärt Scherzer nach der Stunde. Ballerinas seien aussen zart und innen hartgesotten, dieser Beruf verlange vor allem eins: Disziplin. Eine Ballerina darf nicht zimperlich  sein. Wenn eine Blase blutet, kommt ein Pflaster drauf und weiter gehts. Sechs Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, jahraus, jahrein. «Es ist für die Mädchen keine Belastung. Sie sind wie ich damals, sie wollen nur eins: tanzen. Das macht uns glücklich.»


Die Zähne zusammengebissen hat auch Scherzer. 28 Jahre lang tanzte sie an der Staatsoper in Berlin, eine ungewöhnlich lange Zeit. Seit 2004 leitet sie zusammen mit ihrem Partner Oliver Matz die Tanz-Akademie. Das Paar hat jahrelang zusammen getanzt, sich verliebt und nun die Zürcher Schule auf internationales Topniveau gebracht. Damit ist sie eine der führenden Ballettschulen weltweit. «Wir wenden das ganze Wissen unserer langen Karriere an, damit Zürich den internationalen Standards in nichts nachsteht.» Und so haben einige der rund 100 Schüler, 60 Prozent Frauen und 40 Prozent Männer, bereits Schlagzeilen gemacht. Etwa die Zürcherin Lou Spichtig, die in New York den begehrten «Youth America Grand Prix» abräumte und somit eine der besten 16-jährigen Tänzerinnen der Welt ist.


Der Star der Kompanie
«Eitel? Natürlich sind wir eitel, sogar extrem eitel.» Steffi Scherzer erzählt von der Ästhetin, die in ihr steckt, wie man als Ballerina auf jedes Kilo achtet und das Gewicht immer im Auge behalten muss. Sie selber könne auch Schweinshaxen essen, aber gewisse Tänzerinnen seien von der Natur nicht so begünstigt und müssten aufpassen, sonst bekämen sie keine Rolle. Es erstaunt, wie viel eiserner Wille in diesen feenhaften Wesen steckt.


Als 6-Jährige hatte Steffi Scherzer noch keine Ahnung, wie streng ein Leben als professionelle Tänzerin ist. Sie wuchs im Städtchen Stollberg im Erzgebirge auf, verpasste keine Chance, um den Verwandten ein Tänzchen vorzuführen, und besuchte mit ihren Schwestern eine Hobby-Ballettschule. Mit elf Jahren zog es sie in die grosse Stadt: Sie liess sich an der Staatlichen Ballettschule Berlin zur Tänzerin ausbilden. In der Kompanie der Staatsoper bot ihr der Direktor bereits im ersten Jahr eine Hauptrolle als Solistin an. «Ich wusste nichts von meinem Talent. Aber sobald ich ausgewählt wurde, war das Selbstvertrauen da.»


1984 wurde Scherzer zur Primaballerina erkoren und tanzte mit Grössen wie Nurejew. «Es war, als hätte ich eine Lichtgestalt vor mir», erinnert sie sich. Sie bekam nur die besten Rollen von den bekanntesten Choreografen wie Maurice Béjart, Roland Petit und Patrice Bart. Die schönste davon: Odette/Odile in «Schwanensee». «Eine Ballerina muss nicht nur die Technik perfekt beherrschen. Man muss das Innere nach aussen tragen, die Präsenz haben, eine Geschichte zu erzählen und Gefühle zu wecken.»


Ihre Position als Primaballerina schenkte Scherzer nicht nur Ansehen, sondern auch Freiheit. In der DDR genossen Künstler wie sie einen Sonderstatus. Sie durfte Ausflüge in den Westen geniessen. «Wer ganz oben in der Hierarchie einer Kompanie steht, wird bewundert und privilegiert.» Sie sei die Beste gewesen, und das hätten alle gewusst, das dürfe sie ruhig sagen. «Trotzdem habe ich den anderen nichts vom Westen erzählt, das wäre ungerecht gewesen.» Jeden Satz spricht Scherzer mit wohlüberlegter Sorgfalt und Anstand aus.


Jede Fingerspitze zählt
Spätestens mit elf Jahren beginnen die Mädchen und Jungen die Ausbildung an der Tanz-Akademie. Nach drei Jahren Grundstudium ist die obligatorische Schulbildung abgeschlossen. Um das eidgenössische Fähigkeitszeugnis zu erhalten, absolvieren sie danach ein dreijähriges Hauptstudium, das mit einer Lehrabschlussprüfung endet. «Man beginnt früh, damit sich der Körper und die Reflexe formen», erklärt Scherzer. Fingerspitzen, Ellbogen und Knie, jeder Körperteil muss perfekt positioniert sein, um ein harmonisches Ganzes wiederzugeben. Nach Tausenden von Wiederholungen ergibt sich die Haltung automatisch: Die Ballerina kann sich auf den Ausdruck konzentrieren.


«Gesund kann man das nicht nennen, der Körper kommt an seine Grenzen.» Deshalb seien die Gene wichtig, der Körper einer Ballerina müsse für das Tanzen geschaffen sein. Knochen und Gelenke würden belastet, Altersbeschwerden seien nicht selten. Aber Steffi Scherzer ist noch fit. Mit 35 fielen ihr gewisse Schrittkombinationen nicht mehr so leicht, doch sie tanzte zehn Jahre weiter. «So schnell gebe ich nicht auf, ich habe meine Kräfte ausgereizt, wo es nur ging.»


Nun wirbeln die Mädchen in den Spitzenschuhen durch den Raum. «Klick, klick, klick. Gut, gut, gut.» Scherzer nickt einem Mädchen zu. Man stellt sich vor, wie stolz sie auf dieses Kompliment ist. Kerzengerade am Spiegel angelehnt sitzt ein verletztes Mädchen, es macht Notizen auf Japanisch. Einige Schülerinnen kommen aus Japan oder auch Portugal und Italien. Sie leben im Internat der Schule, wo sie zusammen leben, kochen und waschen. Ein Team von Sozialpädagogen kümmert sich um die Entwicklung der Teenager.


«Stopp, achte auf das Tempo! Du bist doch musikalisch.» Scherzer begleitet die Rüge mit einem wohlwollenden Lächeln. Sie sei zwar eine Respektsperson für die Schülerinnen, aber auch eine Freundin, der sie ihre Probleme erzählten. Die Mädchen werden mit Scherzer erwachsen. Wenn sie die Schule verlassen und zu Auditionen auf der ganzen Welt gehen, werden sie ihre Lehrerin im Herzen tragen. «Ich lasse sie dann los mit dem Vertrauen, dass sie in der grossen weiten Welt klarkommen.»


Zum Abschluss lässt Scherzer zum «Fun» die Mädchen elegant dem Himmel entgegenrennen. «Klar sind wir verbohrt, das muss man sein in diesem Beruf,  aber die Leichtigkeit gehört dazu, sonst würde ich ja Marionetten erziehen.» Die Mädchen lächeln zum ersten Mal.

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