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Porträt

Blinde Teamstütze verlässt das Gericht

Von: Ginger Hebel

15. April 2013

Nach 41 Jahren am Bezirksgericht Zürich tritt der blinde Ewald Leu in den Ruhestand. Dankbar für die gute Zeit, aber auch traurig über die Tatsache, dass es für Sehbehinderte und Blinde so schwierig ist, eine Stelle in der freien Wirtschaft zu finden.

Die Wände im Büro Nummer 140 des Bezirksgerichts sind kahl, die Bilder hat Ewald Leu schon abgehängt. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Ende April tritt der 65-Jährige in den Ruhestand. 41 Jahre lang schrieb er Protokolle von Gerichtsverhandlungen. «Es ist ein komisches Gefühl, von heute auf morgen aufzuhören. Ich habe mein Leben lang hier gearbeitet, und trotzdem ging die Zeit so schnell vorbei», sagt Ewald Leu. Er ist der dienstälteste Mitarbeiter am Bezirksgericht – und blind.

Mit dreizehn traf ihn beim Fussballspielen ein scharf getretener Ball am Kopf, sodass er darauf am linken Auge blind wurde. Mit siebzehn erkrankte er am anderen Auge an grünem Star. Die Operation missglückte, und Ewald Leu erblindete auch am rechten Auge nahezu vollständig. Seither kann er nur noch Hell und Dunkel erkennen (das «Tagblatt» berichtete vor sechs Jahren über seine Lebensgeschichte). Doch er liess sich nicht unterkriegen. Von einer Invalidenrente zu leben, wäre für ihn das Schlimmste gewesen. Da sich die IV weigerte, ihm eine Umschulung im kaufmännischen Bereich zu finanzieren, hat er sich im Selbststudium und in Kursen kaufmännisches Wissen angeeignet. Aufgrund seines Handicaps kassierte er bei seinen Stellenbewerbungen aber nur Absagen. 1971 gab er eine Stellensuch­anzeige in der Zeitung auf, in welcher er auch seine Sehbehinderung erwähnte. Das Bezirksgericht Zürich meldete sich und stellte ihn ein. «Es war schon vor vierzig Jahren sehr schwierig, als Blinder überhaupt eine Stelle zu finden. Ich dachte aber, mit der Zeit würden die Personalverantwortlichen Behinderungen gegenüber aufgeschlossener – ich habe mich geirrt, das Gegenteil ist der Fall», bedauert Leu.

Den Sehbehinderten und Blinden aus seinem Bekanntenkreis geht es allen gleich: Sie finden nur schwer eine Stelle in der freien Wirtschaft. «Eigentlich verkünden die Politiker ja immer, man solle Menschen mit einer körperlichen Einschränkung wenn immer möglich in die Arbeitswelt integrieren und sie nicht einfach mit einer Invalidenrente abspeisen. In Wahrheit aber werden die meisten mit einer IV-Rente abgespeist oder dürfen bestenfalls in einer Behindertenwerkstätte oder in einer Blindenorganisation arbeiten», sagt Leu. Er ist heute einer der wenigen Blinden, der 100 Prozent im kaufmännischen Bereich in der freien Wirtschaft arbeitet. Er wünscht sich, dass es mehr Firmen gibt, die bei der Stellenvergabe auch Blinde berücksichtigen, zumal blindenspezifische Hilfsmittel von der IV bezahlt werden.

Ewald Leu hat ein erfülltes Berufsleben hinter sich. Nur zu gern erinnert er sich an den Moment, als er als 24-Jähriger die Stelle am Gericht antrat. «Der ehemalige Personalchef, Bernhard Rüdy, hat mir eine Chance gegeben und mir immer den Rücken gestärkt. Ohne ihn hätte ich die Schlacht hier damals wahrscheinlich verloren», erzählt Leu. Denn zu Beginn fühlten sich einige alteingesessene Mitarbeiterinnen, welche die gleiche Arbeit wie Leu verrichteten, gedemütigt, dass nun einer kam, der kaum etwas sehen konnte und trotzdem die gleiche Arbeit machen sollte wie sie. Doch genau das konnte er. Spannende Fälle wie den ­Raphael-Huber-Prozess, den Fraumünster-Postraub oder den Klärschlammprozess hat er bearbeitet. Der technologische Fortschritt machte es möglich, dass er heute an einem modernen PC mit Braillezeile und Sprachausgabe arbeiten kann.

Damit ist bald Schluss. Ewald Leu wird pensioniert. An seinem Geburtstag am 4. April organisierte er eine grosse Abschiedsparty am Bezirks­gericht. Auch künftig will er auf die Computerarbeit nicht verzichten. Nach seiner Biografie «Blind & Blöd» schreibt er momentan an seinem ersten Krimi, der im Bezirksgericht spielt. Zudem freut er sich auf seine alljährlichen Ferien in Florida, darauf, die heisse Sonne auf der Haut zu spüren, das Rauschen des Meeres zu hören, und auf die endlosen Spaziergänge am Strand.

 

«Blinde und Sehbehinderte denken oft besser strukturiert als ihre sehenden Mitmenschen»

Roger Weber, Vorsitzender der 7. Abteilung des Kollegialgerichts, über die Anstellung von Sehbehinderten.

Ewald Leu hat mehr als 41 Jahre am Bezirksgericht gearbeitet. Er hat bewiesen, dass Menschen mit einem Handicap in der Arbeitswelt bestehen können. Was können Blinde besser als Sehende?
Roger Weber: Entgegen landläufiger Meinung geht es nicht nur um Fähigkeiten im akustischen Bereich. Blinde und Sehbehinderte denken oft auch besser strukturiert als ihre sehenden Mitmenschen.

Wenn es um die Anstellung von Blinden geht, sind viele Personalverantwortliche nach wie vor skeptisch bis ablehnend. Wie können Sie sich das erklären?
Weber: Vielfach herrscht in der Arbeitswelt die Vorstellung, behinderte Menschen zu beschäftigen, sei eine karitative Aufgabe. Gerade Sehbehinderte sind aber oft gut ausgebildet und für die Betriebe wertvoll, wenn man sie richtig einsetzt. An einem Gericht denkt man sofort an die Protokollierung von Verhandlungen. Man darf aber nicht vergessen, dass es auch blinde Rechtsanwälte gibt, die ihren Beruf mit Erfolg ausüben. Diese Ressourcen nicht zu nutzen, können wir uns volkswirtschaftlich eigentlich gar nicht leisten. Erklären lässt sich das Phänomen nur damit, dass heute die harten Faktoren zu stark gewichtet werden, obwohl die weichen für den betrieblichen Erfolg wichtiger sind. Im Fussball gewinnt auch nicht das Ensemble der teuersten Einzelspieler, sondern das besser funktionierende Team.

Was schätzen Sie an Ewald Leu?
Weber: Ich mag seine offene Art, denn sie trägt viel zur Optimierung der Abläufe bei. Bezogen auf die Arbeit ist es vor allem seine Zuverlässigkeit. Dank seiner grossen Erfahrung hat er Generationen von angehenden Gerichtsschreiber(innen) beigebracht, wie gute Protokolle aussehen müssen.

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