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Porträt

Der Baumdoktor und seine Patienten

Von: Jan Strobel

23. April 2013

Der 47-jährige Forstingenieur Matthias Brunner ist zur Stelle, wenn die Bäume ihn brauchen. Um Schädlinge zu bekämpfen, benutzt er eine ganz neue Methode.

Matthias Brunner blickt mit seinem sonnengegerbten Gesicht hinaus auf den Platz vor dem Café, wo sich gerade der Frühling zaghaft seinen Weg in die Herzen der Passanten bahnt. Er spricht von einem «Wunder», einer «faszinierenden Körpersprache», dann wieder von einem «ganzheitlichen Organismus», einem «eigenen Universum». Sässe einer am Nebentisch, er könnte denken, dieser Mann sei verliebt – oder er habe zu viele Esoterikseminare besucht. Matthias Brunner allerdings meint mit dem Wunder nicht irgendeinen Menschen – und schon gar nicht geht es ihm um ein Palaver im esoterischen Stuhlkreis.

Der 47-Jährige redet über Bäume, und die Emotion verwandelt sich schnell in handfeste Wissenschaft. Brunner ist der Baumdoktor, der kranke, von Schädlingen oder Pilzen befallene Bäume behandelt und für die Diagnose mittels Ultraschall in ihr inneres Gefässsystem eindringt. Er berät mit seiner Zürcher Firma besorgte Gartenbesitzer, wenn sie um die Gesundheit ihres Lieblingsbaums fürchten oder der Nachbar mit juristischen Konsequenzen droht, weil ein Ast oder eine Wurzel es wagt, über die Grundstücksgrenze hinauszuwachsen. Dann wieder schützt er Bäume während Bauarbeiten und nimmt gegenüber Bauherren und Bauleitern gewissermassen die Stimme des Baumes ein. Und schliesslich muss er sich wie ein Arzt auch mit dem Tod auseinandersetzen, wenn kein Weg mehr an einer Fällung vorbeigeht. So ein Baum begleitet mitunter ganze Biografien, bis die Motorsäge den einst blühenden Jahrzehnten ein brutales Ende bereitet. Brunner, der ETH-Forstingenieur, bricht darüber nicht in ein Lamento aus, sondern sieht das ganz rational: «Manchmal ist so eine Fällung einfach eine logische Konsequenz, der natürliche Lauf der Dinge. Auch Bäume sind schliesslich endlich. Das ist zu akzeptieren.»

Jeder Sinn kommt zum Einsatz
Wird Brunner zu einer Linde, einer Buche oder Kastanie gerufen, zu einer «Konsultation», wie er es nennt, dann beginnt für ihn eine eigentliche Zwiesprache mit dem Baum. «Wie steht er da? Was sagt er mir? Welche Charakteristik des Wuchses weist er auf? Wie steht es um Form und Farbe der Blätter und der Krone? Da setzt sich ein erstes Puzzle zusammen», umschreibt er den Prozess, den Forstingenieure «Visual Tree Assessment» nennen, also eine visuelle Baumkontrolle.

Schliesslich befühlt er die Struktur der Rinde, presst Knospen mit den Fingern zusammen, beurteilt ihren Duft oder differenziert mit der Zunge die Geschmacksstoffe der Früchte. Genau das ist es, was Brunner unter einem ganzheitlichen Organismus versteht. «Bei der Untersuchung eines Baumes kommt jeder Sinn zum Einsatz.» Bis zu 3000 Bäume untersuchen Brunner und sein kleines Expertenteam jährlich und geben ihre Gutachten ab. Die Kunden sind meistens Privatleute, aber auch viele Städte und Firmen haben bereits die Dienste Brunners in Anspruch genommen, wenn es um bedrohte oder erkrankte Bäume in Siedlungsräumen geht. Besonders die Rosskastanien sind die Sorgenkinder der Stunde. In Stadtparks oder Alleen wie beim Sihlquai fühlt sich der Fussgänger mitten im Sommer schon mal im tiefsten Herbst, wenn plötzlich braunes Laub unter den Schuhen raschelt. Zu verantworten hat das die Balkan-Miniermotte, ein unansehnlicher Kleinschmetterling aus Osteuropa, der sich seit geraumer Zeit auch bei uns breitgemacht hat und seither die hiesigen Rosskastanien befällt. Eine wirksame Bekämpfung gestaltete sich bis anhin schwierig, weil die chemischen Präparate oft vom Wind weitergetragen wurden oder im Grundwasser zu versickern drohten.

Brunner ging allerdings einen ganz anderen Weg und leistet in der Schweiz Pionierarbeit im Feldzug gegen den Schädling: Der Baumdoktor impft die befallenen Kastanien, indem er eine winzige Dosis des Syngenta-Wirkstoffs Revive direkt in den Stamm injiziert. Als erstes Land in Europa erhielt die Schweiz letzten Sommer die Zulassung für dieses neuartige Insektizid. «Der Wirkstoff wird in den Blättern eingelagert und unterdrückt die Entwicklung der Miniermottenraupen für bis zu drei Jahre», erklärt Brunner. Die Behandlungen beginnen im Mai mit dem Austrieb und dauern bis August. Am Sihlquai oder in der Hohlstrasse waren die ersten Versuche ein Erfolg. Dort spriessen die einst kränklichen Bäume jetzt wieder in sattem Grün.

Die stille Erhabenheit
Wie die Bäume zu Brunner kamen – da gibt es einen ganz bestimmten Ort, an dem das geschah. «Mein Grossvater», erzählt er, «besass am Homberg im oberen Wynental ein Waldgrundstück. Ich begleitete ihn als Bub regelmässig ins Holz, und dann stand ich vor diesen Bäumen mit ihrer ganzen stillen Erhabenheit. Das hat mich unglaublich fasziniert.» Er tauchte ein in diese Welt, baute Baumhütten, kletterte hoch hinauf bis in die Kronen, von wo er Felder und Wälder überblickte. Wenn er dann mit der Hand über die rauen, zerfurchten oder auch glatten, glänzenden Rinden strich, realisierte er, dass diese Bäume zu ihm sprachen, ihm etwas erzählten, während der Grossvater unten mit der Säge hantierte, um Brennholz zu schneiden. Die Bäume liessen ihn nicht mehr los, und so folgte er gewissermassen ihrem Ruf, als er nach der Matur an der ETH das Forstingenieurstudium begann. Bald nach dem Abschluss machte er sich als Baumberater selbstständig und gründete vor 16 Jahren seine Firma, damals eine der ersten ihrer Art in der Schweiz. Seither hat sich vieles getan, «vor allem im Bewusstsein der Gesellschaft», findet Brunner. «Die Leute sind viel sensibler geworden, wenn es um den Zustand der Bäume geht. Das zeigen zum Beispiel auch die zahlreichen Baumschutzverordnungen. Besonders alte Bäume sind heute ganz selbstverständlich Naturdenkmäler, Naturwunder, die unseren Nachfahren erhalten bleiben.» www.matthiasbrunner.ch

 

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