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Porträt

«Er drückte das Gaspedal durch und raste in einer filmreifen Verfolgungsjagd kreuz und quer durch den Kreis 4.» Bild: PD

Der Gerichtsfall: Wenn ein Raser Reue zeigt

Von: Isabella Seemann

20. Januar 2015

Wenn Schulklassen den Unterricht in den Gerichtssaal verlegen, ist dies Staatskunde und Wachrüttelprogramm in einem. Zuweilen sogar mit Unterhaltungswert.

Gerichtsshows waren zu Beginn des neuen Jahrtausends der Renner auf allen Kanälen. Dreizehn Jahre lang sprach die mütterliche «Richterin Barbara Salesch» Recht im Fernsehstudio, nachmittagsfüllend luden «Strafgericht», «Familiengericht» und «Jugendgericht» vor den Bildschirm, und noch heute beflügelt «Richter Alexander Hold» die Quoten. Die fernsehgerecht zubereiteten Krawallnummern bedienen perfekt das wohlige Gefühl moralischer Überlegenheit, die wachsende Sehnsucht nach einer letzten Instanz. Die Zuschauer sind wild drauf. Gleichwohl wuchs es nie zum Trend, echte Gerichtsverhandlungen zu verfolgen. Vor dem Bezirksgericht Zürich bilden sich Menschenschlangen nur gerade, wenn ein spektakulärer Sexualmord behandelt wird oder eine Prominenz vor den Schranken des Gerichts steht. Presseleute sind meistens die einzigen Vertreter der Öffentlichkeit. Eigentlich erstaunlich, sind die meisten Gerichtsverhandlungen doch öffentlich – und erst noch gratis.

Lediglich Schulklassen verlegen zuweilen eine Lektion Staats- und Rechtskundeunterricht in den Gerichtssaal. Und weil man fürs Leben lernt, schadet es auch nicht, wenn der Besuch am Gericht auch noch die Konsequenzen eines Fehltritts vor Augen führt.

Eine Schulklasse, deren Stundenplan heute einen Besuch am Bezirksgericht Zürich vorsah, hat einen Brandstifter erlebt, der eine Kebabbude abgefackelt haben soll, was mit vier Jahren Gefängnis geahndet wurde. Eine andere besuchte die Verhandlung über einen Beschaffungstäter, ein kleiner Fisch zwar, aber ein beharrlicher Schwimmer gegen das Gesetz. Der Aktenberg des Angeklagten weist bereits eine stattliche Höhe von einem Meter dreissig auf. Zur Veranschaulichung schob der Gerichtsweibel im taubenblauen Anzug einen Trolley voller Bundesordner vor die Zuschauerreihen. «Zwischen diesen Ordnerdeckeln steckt ein ganzes Schicksal», sinnierte der Richter. Und die Schüler, die ein ­anderes Leben zu führen gewohnt sind, wunderten sich in wohliger ­Verständnislosigkeit.

Akgün stieg aufs Gas
Am Nachmittag nimmt nun also eine Schulklasse aus Oerlikon Platz auf den Publikumsrängen. Es sind sechzehnjährige Mädchen und Buben, nicht wenige mit Migrationshintergrund, wie man beim Warten in der Lobby hörte. Die gut gelaunte ­Richterin warnt die Schüler vorab: «Wir verhandeln hier keinen grossen Kriminalfall».

In einer Sommernacht kurvte Akgün F.*, er war gerade 18 geworden, mit einem silbergrauen Jeep Grand Cherokee durch Zürich. Neben ihm sass ein Kumpel, ein zweiter auf der Rückbank. Das Fahrzeug hatten sie sich aus der Garage geliehen, wo ­Akgün eine Schnupperlehre machte. Geborgte Autos sind immer eine heik­le Sache, die von ahnungslosen Kunden sowieso. Doch die jungen Männer waren angetan vom kraftvollen Geländewagen und begaben sich auf eine Spritztour zum Schiessstand Hasenrain. Auf einmal war ein Streifenwagen hinter ihnen. Akgün stieg aufs Gas, ging bei Rot in die Kurve, da setzten die Beamten die Matrixleuchte «Stop Polizei» ein. Er drückte das Gaspedal durch und raste in einer filmreifen Verfolgungsjagd kreuz und quer durch den Kreis 4. Doch beim Stauffacher stellte sich ihm ein zweites Polizeiauto quer in den Weg. «Er knallte ungebremst in den Streifenwagen und setzte die Fahrt fort», wird der Polizist, der vom Zusammenstoss ein Schleudertraum davontrug, später berichten.

Mithilfe einer waghalsigen Kehrtwende, Einbahnstrassen, die er in falscher Richtung befuhr, und Spitzengeschwindigkeiten bis zu 120 Stundenkilometern gelang es Akgün, den Polizisten zu entkommen. Auf der Flucht knickte er Strassenschilder um, demolierte parkierte Mofas und Velos, durchbrach eine Bauabschrankung – und landet schliesslich Kühlerhaube voran in einem Sandhaufen.

«Ich weiss, dass ich schuld bin»
Der Ausflug kostet ihn 50 000 Franken. «Sie haben Glück gehabt», sagt die Richterin zum Angeklagten. «Sie sind noch einmal davongekommen, Sie und alle Menschen, die um diese Zeit an diesen Orten unterwegs ­waren. Es hätte auch schlimmer ausgehen können.» Dann hätte die ­Verhandlung eine Etage höher stattgefunden, wegen fahrlässiger Tötung. Jetzt sitzt der junge Türke wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln auf der Anklagebank.
Dreieinhalb Jahre sind seit der halsbrecherischen Fahrt durch die Stadt vergangen. Akgün, ein pausbäckiger Bub mit Stupsnase und Strubbelhaaren, sieht noch immer nicht älter als 18 aus. «Ich weiss, dass ich schuld bin, da gibts keine Entschuldigung», sagt er zerknirscht und richtet zum wiederholten Male seine ­Gerichtspapiere in der bunten Klappenmappe aus. «Ich bin total in ­Panik geraten, dass mich die Polizei erwischen könnte.» Er hat keinen Fahrausweis, er hat nie einen gemacht, und wenn, besässe er jetzt keinen mehr. Er möchte aber auch keinen mehr machen. «Heute habe ich Angst vor dem Autofahren.»

Der Gruppendruck sei zu stark gewesen, er zu schwach, um «halt!» zu sagen. Das bereue er sehr. Diesbezüglich hat sein Verteidiger gleich eine neue Aufgabe für die Schule ausgemacht. «Es wäre wünschenswert, wenn die Lehrer unterrichten würden, dass man Fehler eingesteht und die Übung rechtzeitig abbricht.» Seinen Mandanten nennt er atypisch – im positiven Sinne. «Bis auf 10 988 Franken und 40 Rappen hat er den geschuldeten Betrag der Versicherung zurückbezahlt und auf vielerlei verzichtet, was sich andere junge Menschen gönnen, Reisen, eine eigene Wohnung – oder ein Auto.» Den Rest werde er bis Ende Jahr auch noch von seinem Gehalt als Verkäufer abstottern. Die Richterin belegt Akgün mit einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten auf Bewährung, sowie 800 Franken Busse. Dem verletzten Polizisten muss er 500 Franken Genugtuung bezahlen, zugunsten von Road Cross, eine Stiftung für Opfer des Strassenverkehrs.

Fall Nr. 3 ist erledigt, die Klasse stürmt schnatternd nach draussen. «Superspannend», sagt der Lehrer in der Lobby, «das war was für meine Jungs.» Er weiss: Das schlechte ­Beispiel wirkt doch mehr als das gute Vorbild. 

* alle Namen geändert

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