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Porträt

Globus-Krawalle 1968: Polizisten führen einen Demonstranten vor dem besetzten Globus-Provisorium ab. Bild: Keystone

Der kurze Sommer der Zürcher Anarchie

Von: Isabella Seemann

26. Juni 2018

Globus-Krawalle 1968: Die Proteste kochten hoch – bis zu jenem Ereignis, das als Symbol der Revolte in die Geschichte einging: der Globus-Krawall am 29. Juni 1968. Zum 50. Jahrestag erinnert sich der Zeitzeuge und heutige Psychoanalytiker Emilio Modena.

 

 «Im Komitee Autonomes Jugendzentrum – einer breiten Allianz von fortschrittlichen Studenten, Jungarbeitern, Sozialisten und Kulturleuten – kämpften wir schon seit langem dafür, dass die Stadt der Jugend endlich das schon seit vielen Jahren versprochene Haus zur Verfügung stelle. Neu kam die Selbstverwaltung dazu.

1967 konnten wir mit dem Stadtrat verhandeln und durften im leer stehenden Globus-Provisorium eine grosse Vollversammlung abhalten. Ein Jahr später wollten wir eine Erinnerungs-Demo veranstalten und luden zur Besammlung vor dem Gebäude an der Bahnhofbrücke. Wir erfuhren allerdings, dass der Stadtrat beschlossen hatte, uns zu kriminalisieren, um uns so ins politische Abseits zu stossen. Die Polizei hatte das Haus besetzt und mit gut bewachten Abschrankungen gesichert. Sie hatten sogar einen Folterkeller vorbereitet. 

Deswegen hatten wir einen Plan B: Die Leute von der Bahnhofbrücke wegbringen und über Central und Limmatquai zur Landiwiese am Bellevue marschieren. Dort wollten wir ein symbolisches Altersheim errichten. Unglücklicherweise gab es eine Gruppe von Unentwegten, die nicht abrücken wollten. Von der Traminsel aus diskutierte ich zusammen mit anderen Militanten mit ihnen. Das dauerte einige Zeit. Die Demonstrationsleitung, die mit dem Gros der Leute bereits das Central erreicht hatte, machte sich Sorgen und kehrte um. Es herrschte Hochspannung, die der Polizeikommissär von der Du-Nord-Terrasse mit markigen Sprüchen anheizte. 

Als der Demonstrationszug wieder kurz vor dem Globus-Provisorium angelangt war, hatten wir auch die letzten Anarchos überzeugt; der ganze Zug setzte sich erneut Richtung Central in Bewegung. Als die Polizei merkte, dass ihr Plan nicht aufgehen würde, begann sie, uns mit den bereitstehenden Hydranten in den Rücken zu spritzen. Das war der Funke, der das Fass zur Explosion brachte.  

Wie ein Mann drehten wir uns um und stürmten gegen die Abschrankungen. Dabei kam ich einem jungen Beamten zu nahe, der sich sichtlich fürchtete. Er verpasste mir einen Knüppelhieb auf den Schädel – das Blut spritzte. Ich zog mich zurück und fuhr in die Notfallstation des Universitätsspitals, wo man meine Riss-Quetsch-Wunde versorgte. 

Es war ein heisser Nachmittag, die Demo geriet ausser Kontrolle, die üblichen Radaubrüder mischten sich ein. Es wurde eine heisse Nacht voller Scharmützel. Alle diejenigen, welche die Polizei fasste – ob sie nun etwas mit dem AJZ zu tun hatten oder nicht –, wurden in den Keller des Globus-Provisoriums verfrachtet, wo sie gnadenlos mit Fusstritten und gezielten Knüppelhieben traktiert wurden.»

Wasserwerfer und Knüppel: Am 29. Juni 1968 eskalierte die Situation an den Globus-Krawallen in der Zürcher Innenstadt. Bild: Keystone

Historische Einordnung: Jakob Tanner, emeritierter Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich, analysiert, was in den Mai- und Junitagen 1968 wirklich passierte und wie die Bewegung bis in die heutige Gesellschaft nachwirkt.

Sie feierten im Sommer 1968 Ihren 18. Geburtstag. Welche Erinnerungen haben Sie?

Jakob Tanner: Ich bekam die Ereignisse vom Mai 68 als Internatsschüler im Kantonalen Lehrerseminar Hitzkirch im Luzerner Seetal mit. Wir waren fasziniert von der Rebellion gegen soziale Enge und autoritäre Hierarchien. In den Sommerferien reiste ich mit einem Freund nach Paris, wo aber gar nichts mehr los war. Wir hatten damals die mediale Dynamik nur ungenügend begriffen und waren dann enttäuscht, dass «68» Anfang August gerade Hitzeferien machte.

Weshalb wurde Zürich von der 1968er-Bewegung erfasst?

Zürich ist die Wirtschaftsmetropole, die grösste Universitätsstadt und zugleich ein kultureller Hotspot der Schweiz. Der verdichtete urbane Raum bot die besten Bedingungen für die mediale Inszenierung eines kulturrevolutionären Spektakels.  

Welche Rolle spielten die Konzerte der Rolling Stones und von Jimi Hendrix im Hallenstadion und der Globus-Krawall für die 68er-Bewegung, dass noch heute davon geredet wird? 

Die Popmusik war seit den frühen 1960er-Jahren tatsächlich ein Katalysator der Bewegung. Die Grosskonzerte öffneten neue Erfahrungsräume und gerieten in die Schlagzeilen. Auch beim Globus-Krawall in Zürich ging es darum, den Protest gegen das gesellschaftliche «Establishment» sichtbar zu machen. Das gelang ausgezeichnet.

Was trieb die Zürcher Jugend 1968 an?

Dasselbe, was Jugendliche weltweit antrieb. Die schwungvolle Formel des Aufbruchs lautete «Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll». Männerhaare wurden länger, Frauenröcke kürzer. Es breiteten sich experimentelle Lebenseinstellungen aus. Dabei verschwand der paternalistische Mief in den Köpfen der 68er-Bewegten keineswegs über Nacht. Das zeigte sich überall, und auch beim Protest gegen den Vietnamkrieg liess sich keine spezifische Zürcher Varietät ausmachen.

Zu 1968 gibt es unterschiedliche ideologische Deutungen. Für viele Linke war sie eine Revolutions- und Befreiungsbewegung, für Rechte wiederum der Anfang aller Verluderung. Was war 1968 wirklich?

«Wirklich» waren die unterschiedlichen Erfahrungen. Die 68er-Bewegung hat eine Gesellschaft verändert, die sich bereits in einem beschleunigten sozialen und kulturellen Wandel befand. Sie war Symptom und Ursache von Veränderungen zugleich. Orchestriert wurde die Revolte durch eine oft überrissene Revolutionsrhetorik. Der Vorwurf der Verluderung kommt heute allerdings von einer nationalen Rechten, welche die rechtsstaatliche Demokratie selber in bedrohlicher Weise verludert. Diese Kreise machen seit einiger Zeit eine immer aggressivere Vergangenheitspolitik. Nach dem Motto «Unser Land zuerst» biegen sie die Geschichte zurecht, auch jene der Jahre um 1968. 

Welche Lehren kann man heute aus den damaligen Ereignissen ziehen?

Dass in einer Demokratie auch immer Konflikte um das Zusammenleben in der Gesellschaft möglich sein müssen. Die 1968er-Bewegung war vielfältig und wurde massgeblich von der Frauenemanzipation geprägt. Insgesamt hat sie den internationalen Horizont und die Menschenrechte stark gemacht. Diese Haltungen sind heute, in einer Zeit steigender Fremdenfeindlichkeit und nationalistischer Diskriminierung, wichtiger denn je. 

Können Sie sich vorstellen, dass es in der Schweiz wieder zu einem solchen gesellschaftlichen Umbruch wie 1968 kommt?

Das ist keine Frage, welche exklusiv die Schweiz betrifft. Hingegen ist es so, dass ein neuer breiter Ausbruch von Protesten sich selbstverständlich auch hierzulande manifestieren würde. Angeregt durch 1968, hat sich die Gesellschaft im vergangenen halben Jahrhundert so verändert, dass es heute Rechte und Rechtsextreme sind, die auf Provokation und Regelverletzungen setzen. Ein linker Protest muss deshalb neue Formen und Inhalte entwickeln. Die sozialen Probleme sind geblieben und haben sich teilweise verschärft. Ein Ende der Geschichte ist nicht zu erwarten, und die Wahrscheinlichkeit, dass es künftig wieder grosse und weltbewegende Umbrüche geben wird, bleibt hoch.

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