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Porträt

Etwas von Wert oder doch für die Deponie? Bei nur einer Wohnungsräumung begutachtet Ömer Keser tonnenweise Gegenstände und Möbel. Bild: SWE

Der Mann fürs Zurückgebliebene

Von: Stine Wetzel

02. Oktober 2018

Im Todesfall lassen Menschen das Intimste zurück, das sie hatten: ihr Leben. Im Auftrag der Angehörigen räumen Menschen wie Ömer Keser ihre Wohnungen. Zwischen Tischdecken, Kommoden und Kleidern findet der Zürcher nicht nur hin und wieder Schmuckstücke für den Verkauf, sondern auch die Geschichten der Verstorbenen.

Er weiss nie, was er hinter der Tür vorfinden wird. Möbel aus den 1960er-Jahren für den Weiterverkauf, Gerümpel zur Entsorgung, Briefmarkensammlungen, kniehohen Abfall? «Wenn ich einen Schritt in die Wohnung gemacht habe, sehe ich schnell, womit ich es zu tun habe», sagt Räumungsexperte Ömer Keser. Er sitzt auf einem abgewetzten, violetten Ledersofa, neben ihm Kissenstapel, die Türen zur Kommode stehen offen, davor die ersten Abfallsäcke – eine 4½-Zimmer-Wohnung in Oerlikon. Keser bereitet heute mit einem Mitarbeiter die Räumung vor, sortiert Gegenstände aus, die er einem Händler verkaufen kann, packt den Abfall nach Kategorien ab: Glas, Bücher, Textilien.

Bis zu 20 Wohnungen räumt Keser im Monat, meistens nach Todesfällen. «Die Räumung würde den Angehörigen emotional sehr viel abverlangen», sagt Keser. Eine respektvolle Haltung, den Angehörigen und den Verstorbenen gegenüber, ist ihm wichtig. Durch seine Hände gehen die Geschichten der Verstorbenen das letzte Mal. «Bei der Räumung kommt alles hervor. Ich würde sogar sagen, dass wir mehr über die Personen erfahren als ihre Nahestehenden.» Ihre Spleens etwa. Dass sie Archivisten in den eigenen vier Wänden waren und alles beschrifteten. Dass sie ihre Kleider in Plastiksäcke verpackten. Wo sie ihre kleinen Geheimnisse versteckten. Dass sie sich plötzlich für den Buddhismus interessierten. «Eine Wohnung erzählt mehr als ein Tagebuch, das Intimste, an ihr kann ich den psychischen Zustand, den Charakter, die Vorlieben und Weltanschauungen des Verstorbenen ablesen.»

Spenden in den Osten

Bei den meisten Räumungen zeigt sich Keser ein trauriges Bild vom Alter. «In vielen Wohnungen bekomme ich den Eindruck, dass die Pensionierung ein Kampf mit der Zeit ist, bis man eben weg ist. Einsamkeit ist ein grosses Thema in der Schweiz, vor allem wenn der Partner gestorben ist.» Seine Beobachtung: «Zurückgebliebene Frauen können sich besser beschäftigen als Männer. Sie haben Bücher über Fitness, Kochen, Reisen. Männer machen nicht mehr so viel und vernachlässigen die Wohnung nach dem Tod ihrer Partnerin meistens.»

Das Sofa, auf dem Keser sitzt, gehörte einem Mann, der nach dem Tod seiner Partnerin allein lebte, um ihn herum: die Relikte der letzten Jahrzehnte zu zweit. «Eine wirklich grosse Wohnung mit sehr viel Material», sagt Keser. Viele Möbel sind unbrauchbar, kaputt oder stammen aus den 1950er-Jahren – «solche Lampen hier kann man nicht mal verschenken, das ist Oma-Stil». Eine Tischlampe hat er immerhin für sich gefunden, ein paar Dekostücke, die seine Mitarbeiter vielleicht noch auf dem Flohmarkt verkaufen können. Verwertbare Möbel würde der Zürcher in der Offerte für die Angehörigen berücksichtigen. In diesem Fall: eher nichts. Keser rechnet damit, dass er hier morgen fünf Tonnen Müll heraustragen wird. «Es ist nicht nur die Wohnung, auch Keller und Estrich stehen voll.» 

Wegschmeissen – das musste Keser erst lernen. «Grundsätzlich finde ich, dass alles, was man noch brauchen könnte, kein Abfall ist.» Aber die Weitergabe müsse im Verhältnis zum Aufwand stehen. Anfangs habe er alles gelagert, jede Ständerlampe, jeden Hocker. Dann musste er auch seine zwei Lager, 120 Quadratmeter, von den Räumungsobjekten räumen. Heute löst Keser das Problem mit Spenden an Privatpersonen in Rumänien, Tschechien. Dafür schickt er Fotos der Möbel mit Potenzial in eine Whatsapp-Gruppe. Hat jemand Interesse, lagert er die Stücke, bis sie zum privat organisierten Transport kommen. «Dafür musste ich erst mal ein paar Zwischenmänner in Zürich ausfindig machen. Aber jetzt klappt das.» Keser spart mit dieser Lösung Entsorgungsgebühren.

Neuanfang für Messis

Eigentlich war Keser Sozialarbeiter, 25 Jahre lang. Vor vier Jahren gründete er den Räumungsdienst Rapido und beschäftigt heute drei Mitarbeiter. Auf Räumungen sei er ursprünglich aus Leidenschaft umgestiegen, aus Leidenschaft für Sammlermöbel. Wohnungen sind für ihn wahre Wundertüten. Umgestiegen sei er aber auch, weil er genug davon hatte, sich nur mit Problemen zu beschäftigen. An seiner neuen Arbeit gefällt ihm das Konkrete. «Bei den Räumungen sehe ich sofort, was ich geleistet habe.» Manchmal frage er sich aber schon, was er hier mache. Etwa wenn er grosse und schwere Aquarien oder Terrarien aus dem sechsten Stock ohne Lift bugsieren muss. Oder wenn in einer Messi-Wohnung unter dem Abfall Schlamm und Kot auftauchen. «Das kostet dann wirklich Überwindung und braucht einen stabilen Magen.» Keser zahlt seinen Angestellten 50 Prozent mehr Lohn für solche Arbeiten.

Erst letzte Woche habe er eine Messi-Wohnung geräumt, in Overall, Handschuhen, Maske: sechs Tonnen Abfall in einer 1½-Zimmer-Wohnung. «Sofa und Bett waren unter dem Müll nicht mehr zu sehen. Die Frau schlief zum Schluss auf einem Stuhl in der Küche.» Vier bis fünf solcher Wohnungen hat er im Monat. «Es hat mich überrascht, wie viele vermüllte Wohnungen es wirklich gibt. Aber es ist toll, dass wir vielen mit der Räumung helfen können, von vorne zu beginnen.» 

Manche Wohnungen haben eine so negative Ausstrahlung, dass sich Keser nicht vorstellen kann, auch nur eine Sekunde länger darin zu bleiben als nötig. In anderen setzt er sich gern mal auf einen Stuhl, schaut herum, guckt sich alte Fotos an. «Als Kind sehen alle herzig aus, als Erwachsene verlieren die meisten ihre positive Ausstrahlung, ihr Blick wird strenger, unzufriedener.»  Auf seinen Bildern will er anders aussehen. «Seit ich all die Wohnungen, all die Leben sehe, habe ich mir zwei Dinge vorgenommen: Nie so viele Möbel in meine Wohnung zu stellen. Und ein bewusstes Leben zu führen, das mehr ist, als Briefmarken zu sammeln.»

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