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Porträt

Pfarrer Ernst Sieber in seinem «Hüttli» am Sihlsee. Das Atelier diente ihm als Rückzugsort, wo er seine Kunstwerke schuf. Zutritt hatte nur das engste Umfeld. Es war aber auch ein Ort, an dem er sein Herz öffnete. Bilder: Ernst Sieber/Caroline Micaela Hauger

Der Pinsel öffnete die Seele

Von: Jan Strobel

26. November 2019

Ernst Sieber war nicht nur der Pfarrer und die Zürcher Ikone der Nächstenliebe, sondern auch ein begnadeter Künstler, der über 50 Jahre hinweg mehrere Hundert Gemälde schuf, die bisher der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Jetzt zeigt ein neues Buch zum ersten Mal eine Auswahl.

Wie riecht eigentlich Liebe? Für Ilona Sieber ist es bis heute ein ganz bestimmtes Parfüm, gemischt aus Terpentinöl und Pfeifentabak. Es ist der geerdete Geruch nicht nur der Liebe, sondern auch der Geborgenheit, des Vertrauens und der Gelassenheit. Es war der Geruch des Vaters, Pfarrer Ernst Sieber, wenn er in seinem «Hüttli» am Sihlsee zum Pinsel griff, ihn in die leuchtende Acrylfarbe tauchte, um auf der groben Jute seine Kunstwerke zu schaffen, Momentaufnahmen, biblische Szenen, Selbstporträts oder auch Stillleben, Landschaftsbilder und symbolhafte Seelenwanderungen.

«Mein Vater», sagt Ilona Sieber, «fand in seinem Atelier die innere Ruhe und eine grosse Zufriedenheit. Er verarbeitete hier das, was er in seiner Arbeit draussen auf den Strassen erlebte. Das Malen diente ihm der Psychohygiene.»

Ein Rückzugsort
Die nährende Inspiration und den Antrieb für seiner Malerei schöpfte Ernst Sieber auch von seiner Frau Sonja, die er immer wieder auf seinen Bildern verewigte. Sie war seine Muse und die härteste Kritikerin, gleichzeitig die Kraft, welche ihm den Rücken stärkte. «Sie bestärkte ihn, den Autodidakten, schon früh, seine eigene Handschrift zu suchen», erzählt Ilona Sieber. Über die Jahrzehnte entstanden mehrere Hundert Gemälde und dazu grossformatige Skulpturen. Eine Gruppe davon steht bereits seit 2013 im Friedhof Horgen.

Die Acrylgemälde ihrerseits wurden gleichsam zu einem privaten Tagebuch. Der Öffentlichkeit waren sie bisher nicht zugänglich gewesen. Nach dem Tod des Pfarrers 2018 übernahm Sonja Sieber, die alleinige Eigentümerin der Kunstwerke, einen Teil der Gemälde, andere sind beim Sozialwerk Pfarrer Sieber eingelagert.

Im jetzt erscheinenden Buch «Kämpft weiter, ich hab’s heiter» ist zum ersten Mal überhaupt eine Auswahl zu sehen. Nach der Buchvernissage in der Zürcher Wasserkirche diesen Donnerstag (siehe Box) werden zudem ebenfalls einige Bilder im Rahmen einer Ausstellung gezeigt.

In Zukunft könnte sich Ilona Sieber ein eigenes Begegnungszentrum vorstellen, in dem einige Werke auch dauerhaft gezeigt werden könnten.  Als Leiterin der Dorfgemeinschaft Spiesshof im schaffhausischen Ramsen, in der unter anderen ausstiegswillige Drogenabhängige eine neue Heimat finden, hat sie in der dortigen Kapelle bereits ein kleines Museum eingerichtet.

Das Atelier im «Hüttli», sagt Christoph Zingg, Gesamtleiter der Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber, sei einerseits ein Rückzugsort, eine Klause, gewesen, in der nur das engste Umfeld Zutritt hatte; andererseits aber auch ein Ort, an dem der Pfarrer sein Herz öffnete und mitunter über die Kunst Brücken zu Menschen schlug, zu denen sich der Zugang anfangs schwierig erschloss.

«Unser gemeinsamer Einstieg war bei meiner Wahl zum Gesamtleiter ein dorniger gewesen, also lud mich der Pfarrer in sein Atelier ein – und wir begannen gemeinsam zu malen», erinnert sich Christoph Zingg. «Diese Sitzungen mit Palette und Pinsel spannten eine Brücke zwischen uns. Es fand ein Rollentausch statt: Ich war jetzt der Schüler, er mein Lehrer. Durch die Malerei schuf er Verbindungen, es war sein Weg, sich auch ausserhalb der Familie zu öffnen.»

Dem pflichtet auch Tochter Ilona Sieber bei. «Mein Vater sprach öffentlich nicht über seine Gefühle. Er war sehr achtsam, wenn es um sein Innenleben ging. Der Glaube und die Familie waren seine Bezugsquellen.» Für Ilona Sieber gehören zu den schönsten Bildern ihres Vaters seine Akte, die er von seiner Frau Sonja gemalt hatte. «Und auch wir Kinder standen ihm immer wieder Modell», sagt sie. «So entstanden ganze Familienporträts.»

Der Künstler Ernst Sieber signierte dabei seine Werke höchstens mit seinen Initialen, auch Titel fehlen meistens. Es ging ihm nicht um Namen. Vielleicht unterstrich er damit auch einen Prozess, der deutlich machte, dass ein Bild niemals wirklich vollendet sein kann, das Gemälde als Gleichnis der ebenso unvollkommenen menschlichen Seele wird.

Als sich für Pfarrer Ernst Sieber der Vorhang öffnete, der das Lebendige vom Verstorbenen trennt, da brachte ihm die Familie eines seiner Gemälde ans Spitalbett. Es zeigt ihn selbst, die Hand ruht auf der Schulter eines Weggefährten. Gemeinsam blicken sie hinaus ins Licht, in den heiteren Frieden. Denn der Tod, sagte schliesslich Ernst Sieber, «ist nicht das Ende».

«Wir». Acryl auf Jute. 2018.

Ohne Titel. Acryl auf Jute, 1997.

Ohne Titel. Acryl auf Jute, 1996.

Ohne Titel. Acryl auf Jute. 1996.

Ohne Titel. Acryl auf Jute, 2001.


Weitere Informationen:
«Kämpft weiter, ich hab’s heiter»
ab 2.12. im Handel erhältlich.
Direkt im Verlag ab sofort bestellen.
Von jedem verkauften Buch gehen
5 Franken an die Stiftung
Sozialwerk Pfarrer Sieber.
Co-Libri-Verlag 2019, Zürich
ISBN: 978-3-033-07514-6

www.co-libri.ch

Buchvernissage und Ausstellung

Die Buchvernissage von «Kämpft weiter, ich hab’s heiter» findet morgen Donnerstag, 28.11., um 17.30 Uhr, in der Wasserkirche beim Helmhaus statt. Türöffnung: 17.15 Uhr. Die Buchvernissage ist unterstützt von der Stadt Zürich.

Die Ausstellung der Bilder von Pfarrer Ernst Sieber in der Wasserkirche dauert bis 10.12., jeweils 14 bis 16 Uhr. Sa, 30.11./Mo, 2.12/Di, 3.12./Mi, 4.12., jeweils 12 bis 16 Uhr. 

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