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Porträt

16. April 1986: Nach Tschanuns Amoklauf im Amtshaus IV wird ein Opfer im Sarg hinausgetragen. Bild: Keystone

"Der Punkt, an dem man nur noch schreien möchte"

Von: Jan Strobel

15. März 2016

Günther Tschanun: Vor 30 Jahren richtete der Chef der Baupolizei vier seiner Mitarbeiter kaltblütig hin. Der Amoklauf offenbarte auch unhaltbare Zustände im damaligen Bauamt II. Eine Rekonstruktion.

Günther Tschanun, 45, mittlere Statur, grau melierte Haare, Brillenträger, Architekt und Chef der Baupolizei, sitzt in der Nacht des 15. April 1986 in seiner kleinen Dachwohnung an der Oetenbachgasse. Er hat eine Flasche Rotwein geleert, einen Burgunder vielleicht, den er immer so liebt, aber jetzt steigt in ihm nicht jene Wärme auf, die den Alkohol zu einem Freund werden lässt. In ihm öffnet sich ein gewaltiger Abgrund, bodenlos, kalt und schwarz. Einen Halt gibt es für ihn nicht, hat es nie gegeben, seit er diese Stelle im Bauamt II angetreten hat. Später wird er sagen: «Ich war zerbrochen», und: «Es war zu einem Materialbruch gekommen.»

Im Café Java um die Ecke, wo er immer nervös an seinem Nichtrauchertisch sitzt, hatte er seit geraumer Zeit begonnen, seine Mitarbeiter zu meiden, die dort ebenfalls ihre Mittagspause verbrachten. Als ob er, ihr Vorgesetzter, ein Fremder wäre. Und sie mieden ihn auch. Er glaubte zu wissen, was diese Menschen mit ihren müden Gesichtern über ihn dachten:  «Tschanun ist unfähig», «Tschanun, ein Ehrgeizling», «Tschanun ist pflichtversessen», «Tschanun ist unehrlich», «Tschanun, ein Mann ohne jegliche Führungseigenschaften und Autorität», «Tschanun, der Versager».
Der Artikel in der «Züri Woche», der am 10. April erschienen war, musste bei ihnen stille Genugtuung ausgelöst haben. Darin war unter anderem zu lesen: «In Zürich werden über Günther Tschanun eine ganze Reihe von Geschichten herumgeboten. So soll er die komplizierte Materie des Baubewilligungsverfahrens nicht voll im Griff haben.» Die Quizfrage des umtriebigen Lokaljournalisten lautete:  Wer im Bauamt II wird von der antretenden Chefin Ursula Koch, der «Köchin», «zuerst in die Pfanne gehauen?»

Für Tschanun war klar: Die systematische Demontage seiner Person hatte ihren Höhepunkt erreicht. Solcherart in die Ecke gedrängt, rief er Stadtpräsident Thomas Wagner an. Der verfasste daraufhin zusammen mit Ruedi Aeschbacher, dem Vorsteher des Bauamts I, eine Antwort auf die von der «Züri Woche» erhobenen Vorwürfe gegen den Chef der Baupolizei.
Doch in jener Nacht in seiner Wohnung, als Tschanun Einsamkeit und Verzweiflung endgültig übermannen, scheint es für ihn nur noch eine Lösung zu geben: Er packt den Revolver, Marke Taurus, in seine Aktentasche. Der passionierte Hobby-jäger hatte die Waffe einst gekauft, um sich vor dem Ehemann seiner Freundin schützen zu können. Draussen dämmert der Morgen des 16. April 1986.

Hinrichtung im Büro
Gegen 6.30 Uhr betritt Günther Tschanun das Café Turicum, das heutige Casa Mia am Werdmühleplatz, und bestellt einen Kaffee. Danach verabschiedet er sich, «als ob es für immer wäre», sollte sich eine Angestellte später erinnern. Gegen 8.30 Uhr wird er im Kopierraum des Amtshauses IV gesehen. Danach begibt er sich in das Büro des Kreisarchitekten Max Fischer, zückt seinen Revolver und erschiesst den 51-jährigen Mitarbeiter. Anschliessend betritt er das Büro von Kreisarchitekt Herbert Neck und richtet ihn aus nächster Nähe regelrecht hin. Im vierten Stock plaudert eine junge Juristin gerade mit einer Freundin am Telefon, als sie Schüsse aus dem Nachbarbüro hört. Dort streckt Tschanun den 31-jährigen Adjunkt und Familienvater Stefan Gabi nieder. Die Frau flüchtet in Panik aus dem Fenster auf das Dach. Viertes Opfer wird Adjunkt Karl-Matthias Toggweiler, der ebenfalls noch am Tatort seinen Verletzungen erliegt. Auf dem grossen Korridor muss Tschanun seinen Revolver nachladen. Jetzt trifft er auf Abteilungsleiter Beat Nann. Er richtet seine Waffe auf ihn und feuert drei Kugeln ab. Nann gelingt es, sich die Treppe hinunterzuschleppen, er überlebt schwer verletzt.

Tschanun verlässt das Amtshaus, versucht zuerst, mit seinem silbergrauen Honda zu fliehen, lässt das Auto aber an der Kreuzung Fortuna­gasse/Lindenhofstrasse stehen und begibt sich an den HB. Dort besteigt er den Zug nach Basel, den er in Baden wieder verlässt, um später den Zug nach Dijon in Frankreich zu nehmen. In der burgundischen Kleinstadt Beaune nimmt er sich schliesslich ein Zimmer im Motel De Bretonnière. Vier Tage später muss Tschanun das Zimmer wechseln, dabei vergisst er seinen Revolver unter dem Kopfkissen.

Als ihn eine Hotelangestellte darauf anspricht, verlässt Tschanun überstürzt das Motel und taucht in der Pension La Terrasse im Dorf Saint-Loup-de-la-Salle auf. Man kennt und schätzt ihn dort, die Wirtin bezeichnet ihn als einen «monsieur comme il faut». Immerhin hatte Tschanun, in einem anderen Leben, in der Pension bereits einige glückliche Sommertage verbracht, die Visitenkarte der Herberge wird die Polizei später in seiner Zürcher Wohnung finden. Am 7. Mai 1986, um 10.30 Uhr, schlagen Gendarmerie und die Zürcher Kriminalpolizei zu. Tschanun lässt sich ohne Widerstand festnehmen, fast erleichtert, und entschuldigt sich bei der Wirtin für die Umstände.

Notsignale ins Leere
Im Nachgang zur Verhaftung und während des folgenden Prozesses trat die ganze Tragweite der Tragödie zutage. Wenn Tschanun von einem «Materialbruch» sprach, dann sah er sich tatsächlich als «Material», als von einem System entmenschlichtes Element in einer erbarmungslosen Maschinerie. Tatsächlich bestätigte der Richter während der Verhandlung, dass Tschanun häufigen und schweren Angriffen der Mitarbeiter ausgesetzt gewesen sei. Die Nerven im Hochbauinspektorat lagen blank. 1982 hatte der Stadtrat einen Personalstopp verfügt, vakante Stellen wurden nicht mehr besetzt. Stadtrat Hugo Fahrner, Vorsteher des Bauamts II, habe, so der Vorwurf, auf Kosten aller sparen wollen; sein Führungsstil sei autoritär gewesen, die Rede war von einem «Meister-Knecht-System». Eine Mitarbeiterin beschrieb die Situation im Amt so: «Eine solche Nervenbelastung habe ich noch nie erlebt. Der Punkt, an dem man am liebsten nur noch schreien und in Tränen ausbrechen möchte, ist erreicht.» Tschanun, von Fahrner als Chef der Baupolizei eingesetzt, entglitten die Zügel. Wichtige Baugesuche blieben liegen. Dabei hatte es Notsignale gegeben. In einem Brief an seinen Vorgesetzten vom Dezember 1985 beklagte Tschanun die inakzeptable Arbeitsbelastung von 86 Stunden pro Woche. Die physischen Grenzen seien erreicht. Es fehle an «ausreichenden administrativen Unterstützungsfunktionen».

Die Notsignale verhallten ungehört, umso mehr, als Fahrner die Reorganisation der Strukturen im Amt zügiger vorantreiben wollte. Hochbauamt und Hochbauinspektorat sollten zusammengelegt, Baubewilligungsverfahren beschleunigt werden. Die ihrerseits überlasteten Kreisarchitekten forderten bei der Stadtspitze nun immer unverblümter die Absetzung des mit seiner Aufgabe völlig überforderten Tschanun oder eine «Disziplinarmassnahme» gegen ihn. Tschanun, so die Vermutung, sah angesichts dessen seinen Posten in Gefahr, auch wenn Hugo Fahrner in einem Interview fünf Monate nach dem Amoklauf beteuern sollte: «Weder die Position von Tschanun noch die irgendeines anderen Mitarbeiters stand zur Diskussion.»

Trotz seiner kaltblütigen Bluttat und damit der Zerstörung ganzer Familien kam es in der Öffentlichkeit zu Sympathiebekundungen für Tschanun. «Das hätte doch einem selbst durchaus auch passieren können, dass man plötzlich zum Tschanun wird», meinte ein Leserbriefschreiber. Auf der Anklagebank, das wurde deutlich, sass nicht nur Tschanun, sondern auch das System, das die Situation letztlich geschaffen hatte und eskalieren liess.

Am 27. April 1988 verurteilte das Obergericht Tschanun wegen vorsätzlicher Tötung zu 17 Jahren Zuchthaus. Das Bundesgericht verschärfte das Urteil schliesslich auf 20 Jahre. Am 6. Januar 2000 wurde er aus der Haftanstalt Saxerriet entlassen und einem Kontrollprogramm unterstellt, das ihm auch eine neue Identität verschaffte. Danach soll er, während der Haft zum Gärtner ausgebildet, in der Nähe von Zürich mit seiner Freundin von damals gelebt haben. Der heutige Verbleib des mittlerweile 74-Jährigen ist unbekannt.

Die Opferfamilien blieben mit ihrem Trauma und ihrer Trauer allein. Nur einmal erhielt Beat Nann einen Brief von Tschanun aus der Zelle: «Persönlich, als Mensch, bitte ich Sie wenigstens um den stillschweigenden Gedanken der Versöhnung. Ich bedaure das Geschehene zutiefst und freue mich vorbehaltlos über Ihre Genesung und wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute.»

Günther Tschanun verlässt nach der Urteilsverkündung im April 1988
das Zürcher Obergericht. Bild: KEY

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Leserkommentare

Pamela Meili - ich kannte sehr gut Guido Vogel, der einzige die er nicht geschlossen hat. Bei uns haben wir gefeiert, bezahlt von Stadt Zürich. Ich kenne den ganzen Geschicht sehr gut und habe immer noch Kontakt mit Helga Vogel, seiner Frau.

Vor 8 Jahren 1 Monat  · 
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