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Porträt

"Der Tod macht mir keine Angst"

Von: Ginger Hebel

20. Oktober 2015

Begleitungen: Flavio Corazza ist 81 Jahre alt und oft mit dem Tod konfrontiert. Er begleitet Menschen in der letzten Lebensphase.

Flavio Corazza sitzt im Ohrensessel in seiner Wohnung in Wollishofen, im Radio läuft «Ein ehrenwertes Haus» von Udo Jürgens. Corazza hat die Nacht im Alterswohnheim Tannenrauch verbracht, an der Seite einer Frau, die im Sterben liegt. Er hat ihre Hand gehalten, sie gestreichelt, ein bisschen geredet, aber nicht so viel, denn sie mag nicht mehr antworten. Doch er ist sich sicher, dass sie ihn versteht. «Ich möchte ihr das Gefühl geben, dass sie nicht alleine ist», sagt Flavio Corazza. Er hat schon viele alte und kranke Menschen sterben sehen. «Der Tod macht mir keine Angst. Ich finde, er hat etwas Schönes und Erlösendes.»

Die Wollishofer Vereinigung – Begleitung in der letzten Lebensphase (WVBLL) wurde 2011 gegründet und geht auf eine Initiative des Vereins Wollishofer Heime für Betagte zurück. Die Vereinigung wird von Wollishofer Institutionen im Pflegebereich und den Kirchgemeinden getragen und durch Mitgliederbeiträge und Spenden finanziert; die Vereinigung hat jedoch nichts mit Sterbehilfe zu tun. Zwölf Begleiterinnen und Begleiter, darunter Flavio Corazza, stehen freiwillig und unentgeltlich im Einsatz. «Mit ihnen steht und fällt das Ganze. Ich bin sehr beeindruckt von ihrem Engagement», sagt Vorstandsmitglied Barbara Karasek.

Menschen in der letzten Lebensphase zu begleiten, hat für Corazza sehr viel mit Würde zu tun, belasten tut es ihn nicht. Der gebürtige Italiener wuchs in der Nähe von Venedig auf. Er erinnert sich noch gut an seine Kindheit im Dorf, daran, dass jeder Bewohner, wenn er verstarb, im Wohnzimmer aufgebahrt wurde und man Abschied nehmen konnte. Dieser natürliche Umgang mit dem Tod habe ihm den Schrecken genommen. Als 24-Jähriger kam er zum Arbeiten in die Schweiz, in einem bitterkalten Januar. «Es war das erste Mal, dass ich so viel Schnee sah, es war der schönste Moment meines Lebens.» Jahrelang arbeitete er mit Herzblut als Damenschneider, zeichnete Schnittmuster und fertigte Kleider von Hand an, «das erste Kleid nähte ich für meine Mutter», erzählt er stolz. Später schneiderte er für Grieder und PKZ und arbeitete in einer chemischen Reinigung. 1971 erlitt er eine Hirnblutung, die Genesung dauerte Jahre, doch auch damals fürchtete er sich nicht vor dem Tod. Für Corazza war immer klar, dass er nach der Pensionierung nicht einfach zu Hause herumsitzen kann, «dafür bin ich nicht gemacht, ich muss eine Aufgabe haben».

Der 81-Jährige ist ein grosser Kreuzfahrtfan und verbringt seine Zeit am liebsten auf den Weltmeeren, aber auch in der Nähe von Menschen in der letzten Lebensphase. Er weiss: Der Tod wird verdrängt und ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema. Doch er hat Verständnis dafür, dass manche Angehörigen überfordert sind, wenn ein geliebter Mensch im Sterben liegt. «Loslassen fällt vielen schwer, und auch die Sterbenden können oft nicht in Ruhe gehen, wenn der Partner oder das Kind daneben sitzt. Auch meine Frau wollte damals alleine sterben.»

Möchten Sie Menschen in der letzten Lebensphase begleiten? Informationen erteilt die Einsatzleitung unter Tel. 079 937 23 42, Weitere Informationen unter: www.wvbll.ch

 

 

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