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Porträt

Daniela Vasapolli und ihr Freund Charly beziehen ihre erste eigene Wohnung im Kulturpark.

Der Umzug in die neue Freiheit

Von: Ginger Hebel

13. Oktober 2015

Neues Wohnprojekt: Der Verein «Leben wie du und ich» machts möglich: Menschen mit Behinderung leben im Kulturpark im Kreis 5 mit nicht behinderten Personen unter einem Dach. Das «Tagblatt» hat zwei Personen beim Einzug in ihr neues Leben begleitet. Vo

Mit Veränderungen kam Johanna Ott schon immer gut klar. Die 32-Jährige hat bereits in Deutschland gelebt und in Kanada und wohnt seit ihrem 16.  Lebensjahr in ihren eigenen vier Wänden. Obwohl sie mit einer schweren körperlichen Behinderung und einer massiven Kommunikationseinschränkung zur Welt kam, hat sie nie in einem Heim gelebt, sondern immer in einer Wohnung mit einem nicht behinderten Mitbewohner und Assistenz; eine Wohnform, die hierzulande noch kaum bekannt ist. Anfang 2012 wurde in der Schweiz – nach einer sechsjährigen Pilotphase – das Leben mit persönlicher Assistenz gesetzlich verankert. Damit entstand die lang erwartete Alternative zum Leben im Heim oder in einer Institution. Leben mit Assistenz bedeutet, dass Menschen mit Behinderung selber entscheiden dürfen, wie, wo und mit wem sie zusammenleben und auch, wer sie dabei unterstützt. Jedoch zeigte sich seit Beginn, dass die Einführung der Assistenz mit grossen Hürden für die betroffenen Personen verbunden war; hier unterstützt der Verein «Leben wie du und ich».

Selbstbestimmt leben

Vor wenigen Tagen hat Johanna Ott ihre neue Wohnung im Kulturpark beim Schiffbau bezogen. Künftig werden hier in vier Wohnungen behinderte Menschen mit nicht behinderten Personen unter einem Dach leben und gegenseitig voneinander lernen. Unterstützt werden sie von persönlichen Assistenten, die sich um den Haushalt und die Pflege kümmern und dazu beitragen, dass behinderte Leute ein selbstbestimmtes Leben führen können. «Die Schweiz ist ein etwas rückständiges Land, was den Umgang mit behinderten Menschen betrifft», sagen die beiden Projektleiterinnen Adelheid Arndt und Jennifer Zuber. Arndt hat den Verein mitbegründet, der Personen mit einer komplexen Behinderung unterstützt und versucht, die Schwachstellen in der Umsetzung des Gesetzes auszugleichen, vor allem durch Unterstützung im Management und in der Administration. Daher ist der Verein auf Spenden von Stiftungen und Privatpersonen angewiesen. Es soll gezeigt werden, dass ein solches Modell letztlich kostenneutral oder günstiger als eine institutionelle Unterbringung ist und eine grössere Lebensqualität für die behinderten Menschen bedeutet. «Im Vergleich zu Ländern wie Kanada sind wir hier weder in der Schule noch im Job gross mit behinderten Menschen konfrontiert; dadurch existieren Hemmschwellen», sagt Adelheid Arndt.

Johanna Ott lebt ein grösstenteils eigenständiges Leben mit Unterstützung ihres fünfköpfigen Assistenzteams. Die Personen sucht sie sich selber aus. «Mir ist wichtig, dass die Chemie stimmt und dass sie auf Augenhöhe mit mir kommunizieren», sagt die 32-Jährige. Ihre Worte sind für Menschen, die ihr zum ersten Mal begegnen, schwer zu verstehen, doch Verständigung ist lernbar, wie Jennifer Zuber beweist. Sie hat vier Jahre lang als Assistenz von Johanna den Alltag mit ihr geteilt, ihr die Haare gewaschen, sie geschminkt und tiefgründige Gespräche geführt. Die beiden Frauen haben noch heute guten Kontakt, obwohl Johanna Ott mit männlichen Assistenten grundsätzlich besser zurechtkommt. Mit ihnen besucht sie gerne Bars und auch mal die Disco. Sie nehmen sie aus dem Rollstuhl und tanzen mit ihr, und sie fühlt sich frei in ihrem Körper, der immer wieder Verkrampfungen aushalten muss und sich nur schwer kontrollieren lässt.

Leben wie ein normales Pärchen

Ein Stockwerk unter Johanna Ott wohnt Daniela Vasapolli mit ihrem thailändischen Freund Charly. Es ist das erste Mal, dass die 37-Jährige eine eigene Wohnung bezieht. «Für mich beginnt jetzt ein zweites Leben.» Daniela leidet an einer seltenen Form von Muskelschwäche und sitzt im Elektrorollstuhl. Ihr bisheriges Leben hat sie in Heimen verbracht im Zürcher Seefeld, wo sie sich nie richtig heimisch fühlte, weil sie die Herzlichkeit vermisste. «Hier im Kulturpark lächeln mich die Leute an, das gibt mir ein gutes Gefühl.» Sie will nie wieder zurück ins Heim, denn sie möchte kein Leben voller Entbehrungen und Regeln mehr führen, sondern selber entscheiden dürfen, was sie isst und wie sie lebt, ebenso wie nicht behinderte Menschen auch. Ihren Freund lernte sie 2006 bei einer Afterparty an der Street-Parade kennen, seither sind die beiden unzertrennlich.Jahrelang teilten sie sich ein kleines Zimmer mit einem Mitbewohner, jetzt haben sie ihre eigenen vier Wände. «Ich geniesse die Privatsphäre, die ich bisher nie hatte», sagt Daniela Vasapolli. Für Charly sei es nie ein Problem gewesen, dass sie im Rollstuhl sitze. Er sieht den Menschen und nicht die Behinderung.

Im Erdgeschoss des Kulturparks schafft der Verein vier Arbeitsplätze im Kunstbereich mit Unterstützung von professionellen Kunstschaffenden. Johanna Ott schreibt Kurzgeschichten, Märchen und Gedichte. Mit neun Jahren lernte sie, mit dem an einem Kopfhelm angebrachten Stab auf einer speziellen Tastatur zu schreiben. Daniela Vasapolli gestaltet Perlenschmuck und hat sich der Friedhoffotografie verschrieben. «Friedhöfe sind Oasen. Man geniesst die Ruhe, stört niemanden, und keiner stört einen.»

Ihre Pärchenwohnung ist schon fast fertig eingerichtet. Tagsüber, wenn Charly arbeitet, kümmert sich ein Assistenzteam um Daniela, abends übernimmt ihr Freund diese Aufgaben. Er trägt sie aufs weisse Sofa in L-Form, sie haben lange darauf gespart. Endlich kann Daniela ihre Beine ausstrecken, wenn sie abends gemeinsam vor dem Fernseher kuscheln. In der Vitrine glänzen Dutzende kleine Parfümflacons, die sammelt sie, seit sie klein ist. Auf dem Wohnzimmerregal thront beschützend die Winkende Katze, ein Glücksbringer, der in keinem asiatischen Haushalt fehlen darf. Daniela und Charly können kaum erwarten, bis ihre Freunde sie in der neuen Wohnung besuchen kommen. Sie fiebern der Weihnachtszeit entgehen und stellen sich vor, wie sie die Wohnung dekorieren und Kerzen anzünden. Sie sind bereit für das neue Leben zu zweit.

www.lebenwieduundich.ch

 

 

 

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