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Porträt

Pfarrer Ernst Sieber war für viele Gestrandete eine Lichtgestalt. Bilder: PD

Der «Zwängli», der immer wieder Himmelreiche schuf

Von: Jan Strobel

12. November 2019

Über seinen Tod hinaus gilt Pfarrer Ernst Sieber als Ikone und Sinnbild der Nächstenliebe. Im neuen Buch «Kämpft weiter, ich hab’s heiter» kommen jetzt 40 Weggefährten und Zeitzeugen zu Wort.

Jede Gesellschaft hat ihre Bunker, ihre Orte, in der das Verdrängte, das Ausgestossene, die Ängste vor den eigenen Abgründen und Unzulänglichkeiten verschwinden. In so einem Bunker beginnt eigentlich die Geschichte von Pfarrer Ernst Sieber, jenem Mann, der mit Unerbittlichkeit und mit einem Feuer, das nur der Idealismus und der Glaube an eine Gerechtigkeit entfachen können, für die Ausgestossenen, die Notleidenden und Verdrängten dieser Stadt kämpfte.

«Ich bin da, wo man mich braucht», hatte der Pfarrer einmal gesagt, und so war er auch 1963 einfach da, als Zürich einen der härtesten Winter seiner Geschichte erlebte und die Seegfrörni die Massen aufs Eis lockte.

Doch ein winterliches Volksfest war nicht jedem gegönnt. Für Obdachlose ging es ums Überleben. Ernst Sieber organisierte im Bunker am Helvetiaplatz eine erste Obdachlosenstation. Bei der Eröffnung war auch das Schweizer Fernsehen mit dabei. Im Beitrag erschien ein junger, charismatischer Mann, Pfarrer in Uitikon-Waldegg, der an die Zuschauer in den vorweihnachtlichen Stuben einen eindringlichen Appell richtete. «Der Herr hat gesagt: Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Deshalb glaube ich, dass, wenn wir jetzt hier im Bunker unten leben, dass wir hier unten ein Stück Himmelreich erleben dürfen.»

Diese Aktion war der Beginn eines beispiellosen Engagements, das sich über fünf Jahrzehnte fortsetzen sollte und Pfarrer Ernst Sieber zu einem nationalen Symbol der Güte und der Empathie werden liess. Zürich hatte seinen neuen Stadtheiligen.

Mosaik eines Unikums
«Solche Persönlichkeiten, wie Pfarrer Ernst Sieber eine war, die gibt es eigentlich nicht mehr.» Dieser Gedanke war die Initialidee für CoLibri-Verleger und Teamleiter Rolf Bootz. Zusammen mit Buchgestalter Michel Bootz und Kommunikationsberater Hugo Engeler entwickelte er ein aussergewöhnliches Werk, das einen zum Teil vollkommen neuen Zugang zu der Person des Pfarrers gewährt. «Kämpft weiter, ich hab’s heiter» heisst ihr Buch, in dem 40 Weggefährten, Zeitzeugen, Politiker oder Betroffene über ihre Begegnungen mit Ernst Sieber berichten.

Auf den 200 reich illustrierten Seiten entfaltet sich das Mosaik eines Unikums. Zu Wort kommen unter anderen die ehemalige Zürcher Sozialvorsteherin Monika Stocker und Kabarettist Viktor Giacobbo ebenso wie Alt-Bundesrat Christoph Blocher, Verleger und Journalist Matthias Ackeret wie auch Ilona Sieber, die Tochter von Ernst Sieber. Oder Dirk Lütschg, der in den späten 80er-Jahren in der Hölle des Platzspitz auf den Pfarrer traf und durch diese Begegnung dem Drogentod entkam. Zum ersten Mal überhaupt werden im Buch zudem einige Kunstwerke von Ernst Sieber publiziert, die bis anhin für die Öffentlichkeit nicht zugänglich waren.

Ein Marketing-Genie
«Dank der verschiedenen Gesichtspunkte der Erzählenden erlebt der Leser in unserem Buch die ganze Vielschichtigkeit von Ernst Siebers Persönlichkeit», sagt Herausgeber Rolf Bootz. Tatsächlich war der Mann viel mehr als Pfarrer und Seelsorger. Er war auch der Künstler, der sich gern in sein kleines Atelierhaus am Sihlsee zurückzog und das Refugium zu einem Lebensmittelpunkt machte. Hier schuf er seine Gemälde und Skulpturen.

Er war der geerdete Bauer, der einst als Knecht gearbeitet und die landwirtschaftliche Schule Strickhof besucht hatte, bevor er auf dem zweiten Weg die Matura abschloss und ein Theologiestudium begann. Ernst Sieber war der Politiker, der von 1991 bis 1995 für die EVP im Nationalrat sass und dort mit seiner flammenden Rede, bewehrt mit einer Schweizer Fahne, deren Kreuz herausgeschnitten war, den Plenarsaal zu betroffenem Schweigen brachte.

Aber natürlich war der Pfarrer auch ein Marketing-Genie, wie es sie hierzulande nur selten gibt. Er, der «Zwängli», schaffte es, Türen zu öffnen, die anderen verschlossen blieben, Projekte und Visionen umzusetzen, die sonst in den Mühlen der Amtsstuben versandet wären.

Im Licht dieser Ikone der Nächstenliebe sonnte sich gern auch die Prominenz, und der Pfarrer, der Rhetoriker, verstand es, sie für seine Anliegen zu nutzen und einzuspannen. Mit wenigen Worten brachte er sein Programm medientauglich auf den Punkt: «Betten statt Letten» war so ein Slogan. Oder: «Sorgen ertrinken nicht im Alkohol. Sie können schwimmen.» Widerstände liessen den von seiner Mission der Gerechtigkeit und der Gemeinschaft Beseelten nie aufgeben. Eine gewisse «Schlitzohrigkeit» musste da immer auch dazugehören.

Mit Kreuz und Esel
«Diese unheimlich soziale Ader von Pfarrer Ernst Sieber», meint Rolf Bootz, «kam tief aus seinem Innern, sie pulsierte gleichsam mit einem unerschöpflichen Strom in seiner Seele. Er konnte das einfach nicht abstellen.» Ernst Sieber erwärmte die Kälte der Gesellschaft auf dem Rücken seines Esels oder ein Holzkreuz haltend im «Wort zum Sonntag».

Der Esel und das Kreuz, sie wurden gleichsam zum Markenzeichen, heute würde man von einem «Brand» sprechen. Der Esel zum Beispiel war auch dabei, als die Zürcher Jugend revoltierte und sich der Pfarrer mit seinem Tier an die Spitze des Demonstrationszugs auf der Quaibrücke stellte und so ein gewaltsames Eingreifen der Polizei verhinderte.

Der Pfarrer baute auf die heilende Kraft des Dialogs und der Gemeinschaft. Über die Jahrzehnte schuf er selbst solche Gemeinschaften: das Spital Sunne-Boge natürlich und der Pfuusbus. Oder dann die kleine Dorfgemeinschaft Spiesshof im schaffhausischen Ramsen, in der unter anderen ausstiegswillige Drogenabhängige eine neue Heimat finden. Heute wird der Spiesshof von seiner Tochter Ilona geführt. Zuletzt entstand die Notwohnsiedlung Brothuuse in Zürich-Affoltern, die Raum und Obdach für Menschen bietet, die in ihrer aktuellen Lebenslage nicht mehr weiterwissen.

Aber zum Los eines Machers, der sich bedingungslos für die Schwachen einsetzt, gehört es auch, dass Dankbarkeit oder Empathie nicht immer zurückfliessen. Das Buch legt in den Berichten der Weggefährten ein Streiflicht auch auf diese, weniger helle, Seite der Persönlichkeit Ernst Siebers.

Dazu gehört ebenfalls seine schwierige Beziehung zu finanziellen Fragen, die mitunter in all dem Idealismus auf der Strecke zu bleiben drohten. Der Pfarrer setzte immerhin stets auf volles Risiko. 2004 geriet seine Stiftung Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber tatsächlich in wirtschaftliche Schieflage. Bei der AHV und der Pensionskasse hatten sich Schulden von über 1 Million Franken angehäuft. Übrige Kreditoren waren mit 1,5 Millionen verbucht. Ein ganzes Lebenswerk schien in Gefahr. Auf Druck der Stiftungsratsaufsicht zogen sich Ernst Sieber und seine Frau Sonja aus dem Stiftungsrat zurück.

Es war eine Kränkung, ein ernster Rückschlag, die Medien sprachen von einer «Entmachtung». Beno Kehl, der Franziskanerpater, der als Bruder Beno Bekanntheit erlangte, erinnert sich in seinem Beitrag an eine Aussage Ernst Siebers während dieser Krisenzeit: «Den Beruf können sie einem nehmen, aber nicht die Berufung.»

Noch mit 89 beseelten den Pfarrer Visionen. Ein selbstverwaltetes Dorf mit einer Kirche und zwei, drei Häusern rundherum für benachteiligte Menschen schwebte ihm vor. «Wir könnten dafür zum Beispiel eine leer stehende Kirche in der Stadt Zürich nutzen. Wer will, dass ich gehe, muss mir diesen Traum erfüllen.» Am Leben hielt Pfarrer Sieber «das Leben selbst», wie er in einem Interview kurz vor seinem Tod bekannte. «Ich habe Gaben und noch Aufgaben, es braucht mich hier noch.»

Der Esel wurde eines der Markenzeichen bei den Kampagnen von Pfarrer Ernst Sieber.

Das Buch «Kämpft weiter, ich hab’s heiter» ist eine Hommage an Pfarrer Ernst Sieber. Die Entwickler: Hugo Engeler, Michel und Rolf Bootz (v. l. n. r.).

Weitere Informationen:
Das Buch «Kämpft weiter, ich hab’s heiter» ist im Handel ab 2. Dezember erhältlich oder kann ab sofort direkt beim Verlag bestellt werden. Von jedem verkauften Exemplar gehen 5 Franken an die Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber.
CoLibri-Verlag, 2019, Zürich
ISBN: 978-3-033-07514-6

www.co-libri.ch

Im «Tagblatt» vom 20. 11. erzählt Dirk Lütschg von seiner Zeit auf dem Platzspitz und wie er dank Pfarrer Ernst Sieber die Drogenhölle überlebte.

Bücher zu gewinnen!

Das «Tagblatt der Stadt Zürich» verlost 5 Exemplare von «Kämpft weiter ich hab’s heiter». Schreiben Sie uns eine E-Mail mit Namen, Adresse, Telefon, E-Mail-Adresse und Betreff Pfarrer Sieber an:
gewinn@tagblattzuerich.ch

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Leserkommentare

Alfred Steiner - Das Urdörfli habt Ihr noch vergessen ....

Vor 3 Jahren 7 Monaten  · 
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