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Porträt

Neben den Spanisch-Kursen macht Moderator David Karasek auch Ausflüge, hier beim Stausee Guatape. Bild: ZVG

Die Angst vor dem Frieden

Von: David Karasek

17. Mai 2016

Moderator David Karasek lebt seit acht Monaten in Bogotá. Er begleitet dort als Feldreporter das IKRK und erlebt hautnah, wie schwierig es für die Kolumbianer ist, mit den Rebellen Frieden zu schliessen.

Sonntagabend, ich komme in Bogotá an. In meinem neuen Leben. Im Reich der Guerilla – so nannten meine Freunde Kolumbien. Kolumbien ist für sie einer der gefährlichsten Orte der Welt. Ein Land voller Konflikte. Die Heimat der Farc-Rebellen. Ich versuchte, nicht auf sie zu hören. Ich wollte nicht mit Angst im Bauch auswandern. Aber klar, der Gedanke an den über 50-jährigen Bürgerkrieg gibt mir ein mulmiges Gefühl.

Zwei Tage später sitze ich im Taxi. Der Fahrer stellt das Autoradio lauter. 18-Uhr-Nachrichten. Es ist der Farc-Chef «Timochenko», wie mir der Taxifahrer erklärt, der eine Ansprache hält. Zu Hause schalte ich den Fernseher an. Auf jedem Sender die gleiche Szene, eine Szene die jahrzehntelang unmöglich schien: Drei weiss gekleidete Herren, Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos, der Farc-Chef und ihr Vermittler, Kubas Präsident Raúl Castro, geben sich die Hand. In sechs Monaten soll aus dem Handschlag eine Unterschrift werden. Der Frieden ist in greifbare Nähe gerückt.

Der internationale Jubel ist immens. Regierungschefs der ganzen Welt gratulieren: Kolumbien könne zum Vorbild der Konfliktbewältigung werden. Ich verspüre ein Gefühl der Erleichterung und Schadenfreude. Monatelang wurde ich vor Kolumbien und der Gefahr durch die Rebellen gewarnt. Nun, kaum bin ich hier, schliessen diese verfeindeten Lager Frieden. Ich bin aufgeregt und stolz auf mein neues Heimatland. Der längste Bürgerkrieg Lateinamerikas wird zu Ende gehen! In den letzten 51 Jahren starben über 250 000 Menschen, sieben Millionen sind auf der Flucht und
80 000 gelten als vermisst – bald ist all dies vorbei. Ich kann den 23. März 2016, den angekündigten Termin für die Unterzeichnung, kaum erwarten.

Doch es kam anders. Der langersehnte Friedensvertrag wurde nicht unterzeichnet. Der 23. März sollte in Kolumbien ein Tag der Freude werden – doch wieder scheiterten die Verhandlungen.

Heute, acht Monate nach dieser ersten Taxifahrt, ist meine Geduld grösser. Dafür ist meine persönliche Euphorie kleiner. Eine Euphorie, die, wie ich mir im Rückblick eingestehen muss, auf Unwissen und meiner schweizerischen Herkunft basierte. Noch nie musste ich mir überlegen, wie es wäre, mit dem Feind Tür an Tür zu wohnen. Ich wusste nicht, was es bedeutet, wenn die Unterscheidung von Gut und Böse nicht mehr existiert. Ich ahnte nicht, dass das Wort Frieden nicht nur Hoffnung gibt. Ich dachte, mit dem Handschlag beginnt eine Zeit der Vorfreude. Aber ich täuschte mich. Die Kolumbianer haben Angst vor dem Frieden. Sie trauen ihm nicht. Und sie trauen den Rebellen nicht. Die Vergangenheit habe gezeigt, sagen mir viele, wie brutal und skrupellos die Mitglieder der Farc-Guerillas sein können. Nun mit denselben Menschen an der Supermarkt-Kasse anzustehen, im Büro zu sitzen und am Elternabend über das Kindeswohl zu diskutieren, löse bei ihnen Panik aus. Aber trotzdem dachte ich lange Zeit: Ist denn ein Versöhnungsversuch nicht besser als das ewige Blutvergiessen? Das Problem ist die Zeit nach den Verhandlungen. Viele Kolumbianer wissen nicht, was auf sie zukommt, und haben Angst vor dem Neuen. «Den Feind Nummer eins als Mitbürger anzunehmen, ist für viele Kolumbianer unvorstellbar», sagt mir Kolumbiens IKRK-Chef Christoph Harnisch, der die Friedensverhandlungen seit deren Beginn als neutraler Beobachter begleitet.

In meiner naiven Schweizer Denkweise dachte ich, Frieden ist immer besser als Krieg. Jetzt realisiere ich: Nicht alle sehnen den Frieden herbei. An den Krieg hat sich die Bevölkerung mittlerweile gewöhnt. Sie lernte, damit zu leben. Und der Frieden erfordert Kompromisse, die viele Kolumbianer nicht eingehen wollen. Damit die Rebellen, die Hauptforderung erfüllen, die Waffen dauerhaft niederzulegen, wird ihnen die Integration in die Gesellschaft mit staatlichen Hilfsprogrammen erleichtert. Zusätzlich wird die Farc, die auf der Liste der Terrororganisationen steht, als politische Partei anerkannt. Vor diesem Schritt fürchtet sich eine Kollegin besonders: «Die Farc-Rebellen dürfen doch nicht Teil unserer Regierung sein!»

Ich lebe in Bogotá, meine Freunde hier stammen grösstenteils aus städtischem Gebiet. Die aktuellen Verhandlungen, die auf neutralem Boden in Havanna geführt werden, sind für sie weit weg. Auch den Guerilla-Krieg haben sie mehrheitlich durch die Medien erlebt. Überschreitet man aber die Stadtgrenze, spürt man die Brutalität des Krieges in seiner ganzen Dimension. Florencia, eine Stadt halb so gross wie Zürich, ist ein Stammgebiet der Farc. Von hier aus finanziert sich die Guerilla. Kokain-Anbau, Drogenschmuggel oder Schutzgelderpressung gehören zu ihren Einnahmequellen. Ihre Skrupellosigkeit zeigt sich bei Kindsentführungen oder der blutigen Unterdrückung der Einwohner. Je öfter ich mit Leuten aus ländlichen Gebieten spreche, desto grösser wird mein Verständnis für ihre Angst. Für sie sind die Verhandlungen nicht nur Fortschritt, sondern auch Verrat. Sie befürchten, dass ihr jahrzehntelanges Leiden und ihre grossen Verluste mit einer Unterschrift plötzlich in Vergessenheit geraten. Wer ist der Böse, wenn der Feind plötzlich zum Freund erklärt wird?  

Die Friedensunterzeichnung, heisst es, wird bis Mitte Sommer verschoben. Beide Parteien wollten kein «ungenügendes Abkommen» akzeptieren, nur um den vereinbarten Stichtag einzuhalten. Hätte man mir vor einem halben Jahr gesagt, dass der Frieden auf sich warten lässt, wäre ich enttäuscht gewesen. Nach unzähligen Gesprächen und Erfahrungen in Kolumbien bin ich geduldiger. Heute weiss ich: Das ist kein Zeichen gegen, sondern für den Frieden. Eine neue Gesellschaft wird nicht auf dem Papier kreiert. Sie muss Punkt für Punkt geplant und Schritt für Schritt umgesetzt werden. Ich hoffe gar, dass sich die beiden Parteien Zeit lassen. Meine Freunde aus der Schweiz sind besorgt über die Tatsache, dass das Datum der Friedensunterzeichnung verschoben wurde. Meine Freunde aus Kolumbien lachen darüber, das sei doch typisch für Kolumbien. Ich denke: Der Tag, an dem der Frieden beschlossen wird, wird zwar ein historischer Moment. Ob Kolumbien Geschichte schreibt, zeigt sich aber erst in den Jahren danach.

«Bogotá ist keine liebliche Stadt»

Sie sind vor acht Monaten nach Kolumbien ausgewandert. Wie sieht Ihr Alltag aus?
Am Morgen lese ich Zeitungen und informiere mich im Internet. Im Austausch mit Redaktionen in der Schweiz bereite ich Themen auf, die auch in der Schweiz interessieren könnten. Ein Radio­mikrofon und eine Kamera stehen in meinem kleinen Büro in unserer Wohnung immer griffbereit. Da der Verkehr auf den Strassen zu Stosszeiten unerträglich ist, muss ich bereits um 8 Uhr losfahren, damit ich rechtzeitig an der Universität bin. Für nur zehn Kilometer sitze ich am Morgen eine Stunde im Stau. In Bogotá gibt es keine Metro, alles und alle sind auf der Strasse. An der Universität Javeriana im Süden der Stadt verbessere ich nicht nur mein Spanisch, wir vertiefen uns auch in die Denk- und Lebensweisen der Kolumbianer und ich lerne Zusammenhänge in Politik, Religion und Gesellschaft. Mit meinem Partner oder meinen zwei ersten kolumbianischen Freunden, Fabian und Sebastian, entdecke ich am Abend die Stadt.

Was sind Herausforderungen in Kolumbien?
Bogotá ist keine liebliche Stadt. Hier, auf 2600 Metern über Meer, ist die Luft dünn. Die ersten Wochen auf dem Laufband bin ich fast erstickt. Das Klima ist kühl und es regnet regelmässig. Die Stadt hat sich in den letzten 50 Jahren vervierfacht. Überall hat es zu viele Leute. In Zürich konnte ich mitten in der Nacht alleine zu Fuss durch die Strassen spazieren, in Bogotá ist das undenkbar. Ich habe gelernt, Gefahren zu erkennen, konzentrierter zu sein, wenn ich unterwegs bin. Aber nach so vielen gemütlichen Jahren im 5er-Tram zwischen Bahnhof Enge und Bellevue sind mir diese Herausforderungen ans Herz gewachsen und bereichern mich.

Was vermissen Sie am meisten von der Schweiz?
Meine Lieben in Zürich. Heimatliebe geht aber auch durch den Magen: Wie gern hätte ich wieder einmal einen Nussgipfel! Nie hätte ich gedacht, wie fest man Salzstängeli vermissen kann. Oder Brot mit Kruste. Dieses habe ich aber letzte Woche endlich gefunden! Ein Laden an der 93. Strasse bietet ein Pfünderli an. Und wenn ich davon ein Stück abschneide, spicken Krustenstückli durch die Küche. Wie früher in Zürich.

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