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Porträt

"Wir zelebrieren das Düstere." Bild: Nicolas Y. Aebi

Dunke Schale, heller Kern

Von: Clarissa Rohrbach

29. Oktober 2013

An Halloween wird der Tod gefeiert. Für Karina N. ist der dunkle Lebensstil Alltag. In der Schwarzen Szene hat die Bankerin ein Zuhause gefunden.

Die Bassschläge schütteln die schwarzen Gestalten im Dynamo durch. Der Sänger von Agonoize, ein Wortspiel zwischen «agonise» (quälen) und «noise» (Lärm), schreit ins Mikrofon. «Wir sind dafür, dass ihr dagegen seid!» Das Publikum ist alles andere als gequält, sondern tanzt ekstatisch. Mittendrin steht Karina N.*. Ihre Augen sind rot unterlaufen, der Kopf halb rasiert, die Ohren mit Piercings geziert. «Ist das nicht wunderschön?», fragt sie mit sanfter Stimme.

«Wir zelebrieren das Düstere», erklärt die Gothic-Frau. Schon wieder mit einer Herzlichkeit, die sich mit dem furchterregenden Aussehen reibt. Karina N. nickt, das erstaune die meisten. «Die Gruftis sehen zwar krass aus, sind aber sehr lieb.» Das liege am hohen EQ, der Quotient, der die emotionale Intelligenz misst. Davon besässen ihre Leute sehr viel, sie seien intelligent und sensibel und dadurch sehr verletzlich. Doch damit fahre man in dieser Welt meist schlecht. So sei der dunkle Lebensstil eine Art Rebellion, der Ausdruck von Menschen, die sich davon enttäuscht fühlten, dass die Gesellschaft so falsch sei. «Wir wollen nur ehrlich sein, Mensch sein, damit ecken wir immer noch an.»

Der Ursprung aller Subversion liegt in der Punkbewegung der 70er-Jahre. Die Subkultur lehnte mit rohem Rock die bürgerlichen Werte ab. «Sie kritisierte die Abstumpfung der Gesellschaft, das passive zur Arbeit gehen und konsumieren», so Karina N. Anfang der 80er-Jahre entwickelte sich daraus der Dark Wave, ein melancholischer, sehnsuchtsvoller Alternativ-Rock. Es entstand so eine Schwarze Szene, die heute viele Strömungen beinhaltet: Klassik, Gothic, Mittelalter, Metal, aber auch Elektro und Neofolk. Gemeinsam haben sie den Nonkonformismus, eine individualistische Selbstdarstellung.

Auch Karina N. liebt es, sich mittels Kleidung, Schminke und Accessoires auszudrücken. Sie besitzt Korsetts, barocke Kleider, Kontaktlinsen, Pla­teau­stiefel und viele Piercings. Für jeden Anlass hat sie ein passendes Outfit. «So kann ich mich selbst sein. Viele meinen, ich würde mich verkleiden, dabei ist die Strassenkleidung das Kostüm.» Doch das verstehen die meisten Leute nicht. Geht sie mit einem Outfit durch den Hauptbahnhof, wird sie beäugt oder gar als «Satanistin» beschimpft. «Wie bei den Punks herrscht das Vorurteil, dass Menschen mit solchen Kleidern zu nichts gut, faul oder arbeitslos sind.» Dabei hätten die meisten in der Szene gute Jobs. Sie selber hat eine Banklehre absolviert, sich auf Firmenkunden spezialisiert und besucht nun einen renommierten Studiengang für International Management auf Englisch und Chinesisch. Sie könnte sich vorstellen künftig in Asien im Finanz- oder Diplomatiesektor zu arbeiten.

Abgründe gehören zum Leben

«Wer mit dem Finger auf uns zeigt, will uns nicht verstehen.» Denn ja, man habe in der Szene einen morbiden Humor und geniere sich nicht, über Themen zu sprechen, die in der Gesellschaft tabu sind. «Viele in der Schwarzen Szene wurden in ihren Gefühlen verletzt.» Aber anstatt unangenehme Ereignisse zu verdrängen, akzeptierten die Goths, dass Abgründe zum Leben dazugehören. Das führe zu einer toleranten und offenen Haltung.

Dabei ist auch Körperlichkeit ein wichtiges Thema. «Im Gegensatz zur Werbung und zu den Pornos leben wir eine natürliche Sinnlichkeit aus.» In der Szene zieht man sich gerne sexy an, zeigt viel Haut, egal ob dick oder dünn. Niemand stört sich an einer nicht perfekten Figur, man zeigt sich, so wie man nun mal ist, und das wird respektiert. Billige Sprüche und Anbaggern, das komme in der Schwarzen Szene nicht vor, Aggressionen schon gar nicht. «Die Sicherheitsmänner wissen, dass unsere Partys die ruhigsten sind.» Bei den etwas härteren Shows würden die Besucher kollektiv ihre Wut verarbeiten und sich wieder mit positiver Energie aufladen.

Die Schwarze Szene fühlt sich weltweit verbunden. Andere Goths haben Karina N. zu sich ins Ausland eingeladen oder für sie eine Wohnung gefunden. Man hilft sich, hört sich zu. «Wir haben einen sehr ehrlichen Draht zueinander. Ich kann auch mal sagen: ‹Es geht mir nicht gut›.» Dabei gehe es ihr nicht darum, ständig Probleme zu wälzen oder sich in Selbstmitleid zu suhlen. Sondern Freunde zu haben, zu denen sie direkt sein kann. «Bevor ich die Szene entdeckte, fühlte ich mich nirgends zu Hause.»

Karina N. war schon als Kind anders. Als Neunjährige schrieb sie eine Gruselgeschichte, worauf die Schulleitung ihre Eltern kontaktierte. Doch diese kannten bereits die Natur ihrer Tochter. Sie besuchte Kurse für Hochbegabte und hörte Opern. Als sich die anderen Teenager an Festen betranken, passte sie auf, dass alle heil nach Hause kamen. «Ich wünschte mir oft, ein normales Mädchen in einer Clique zu sein, ich war zu allen nett, aber eine echte Verbindung fehlte.» Erst als sie anfing, Fantasy-Rollenspiele zu spielen, entdeckte sie ihre neue Heimat.

Mit blauen Strähnen am Bankschalter

Von kommerziellen Anlässen wie Halloween hält Karina N. nicht viel. Partybesucher kaufen sich fixfertige Kostüme, trinken zu viel und pöbeln herum. Mit der Schwarzen Szene habe das wenig zu tun, das sei ein Lebensgefühl. Am liebsten würde sie es immer ausleben, aber das ist nicht möglich. Ihren Schrank hat sie in drei Teile gegliedert: Schwarz, Arbeit und Alltag. Denn die 27-Jährige ist sich bewusst, dass ihre Outfits nicht in die berufliche Welt gehören. An Bewerbungsgesprächen erschien sie stets absolut neutral. «Ich würde nichts an mir verändern, was nicht umkehrbar ist.» Doch sobald sie ihrem Arbeitgeber bewiesen hatte, dass sie zuverlässig und fleissig ist, durfte sie das eine oder andere Accessoire auch vor den Kunden tragen. Am Bankschalter sass sie sogar mit blauen Strähnen in den Haaren. «Sobald mich die Leute kennen, interessieren sie sich für meine Leidenschaft, auch die Chefs.»

Die Gothic-Frau kommt mit allen gut aus, Hauptsache, sie interessieren sich für die Welt. «Gleichgültigkeit macht mir am meisten Angst», sagt sie. Die Sinnsuche ist ihr Lebensziel. Karina N. nimmt nichts als gegeben hin, sondern hinterfragt alles. Stimmt das, was die Mehrheit behauptet? Bin ich auf dem richtigen Weg? Bilde ich mir eine eigene Meinung? «Diese Fragen stelle ich mir immer wieder, die Antworten sind oft nicht angenehm und machen auch nicht glücklich.» Doch für Karina N. ist Glück nicht der Zweck dieser Welt. «Es gibt Wichtigeres.»

* Name der Redaktion bekannt

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