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Porträt

Kinderkardiologe Oliver Kretschmar. "Kranken Kindern eine Perspektive zu bieten, das ist das grösste Ziel meiner Arbeit."

Ein grosses Herz für kranke Herzen

Von: Ginger Hebel

17. November 2015

Oliver Kretschmar gehört zu den renommiertesten Kardiologen im europäischen Raum. Kürzlich wurde er zum Chefarzt des Herzzentrums am Zürcher Kinderspital befördert. Der 49-Jährige über Eingriffe am wichtigsten Organ, Freude und Niederlage.

Arzt, wie sein Vater, wollte er nie werden. «Er war ja selten zu Hause», erinnert sich Oliver Kretschmar. Sein Vater, ein deutscher Gynä­kologe, hatte kaum über seinen Beruf gesprochen und wenig Zeit für seine Kinder. Doch es kam, wie es oft kommt im Leben, Oliver Kretschmar wurde trotzdem Arzt. Heute gehört der 49-Jährige zu den renommiertesten Kinderkardiologen im europäischen Raum. Seit Oktober ist er Chefarzt des Kinder-­Herzzentrums, das im Januar am Kinderspital Zürich ins Leben gerufen worden ist.

Knapp eines von hundert Babys kommt ­hierzulande mit einem Herzfehler zur Welt, das sind ­zwischen 600 und 800 Kinder pro Jahr. Im Kinderspital Zürich, dem grössten Zentrum für herzkranke Kinder der Schweiz, werden jährlich über 300 Kinder am Herzen operiert, rund 350 erhalten einen Herzkatheter. Hightech ist längst an der Tagesordnung. 2007 hat Kretschmar mit seinem Team erstmals eine Herzklappe mit einem Kathetereingriff ersetzt – ganz ohne OP. Über einen Gefässzugang in der Leiste wurde mittels Katheter eine Klappe eingeführt. «Diese minimalinvasive Methode hat die Operationen zu einem grossen Teil abgelöst. Die Haltbarkeit der Klappe ist gut, sie ist ein Gewinn für die Patienten», erklärt Oliver Kretschmar. Noch vor 60 Jahren erreichte nur ein Fünftel der Kinder mit angeborenem Herzfehler das Erwachsenenalter, heute überleben 95 Prozent – ein grosser Schritt in der Entwicklung der Herzmedizin. «Früher war entscheidend, dass der Patient überlebte, heute fragt man sich, wie er überlebt. Lebensqualität hat einen höheren Stellenwert.»

Viele Herzfehler werden heute nicht mehr erst bei der Geburt entdeckt, sondern häufig pränatal diagnostiziert, also bereits im Bauch der Mutter. Dadurch erhalten die Eltern sowie die Ärzte die Möglichkeit, sich mental auf die Krankheit vorzu­bereiten und mögliche therapeutische Schritte zu besprechen sowie ­vorzubereiten. «Die Geburt eines Kindes ist ­einer der schönsten Momente im Leben. Man kann sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als dann zu erfahren, dass es schwer krank ist», sagt Kretschmar. Wöchentlich nimmt er rund sechs Kathetereingriffe bei Kindern vor, zwei bei Erwachsenen im Universitätsspital Zürich. Aber auch im Bereich der Forschung bringt er langjährige Erfahrung mit. Aktuell ist man am Uni­versitätsspital dabei, eine Herzklappe zu ent­wickeln, die mit dem Kind mitwächst. Die Klappe würde aus körpereigenen Zellen ­hergestellt und implantiert, «das wäre fantastisch und eine komplett neue Art der Medizin», erklärt Kretschmar. Erste Ergebnisse bei Tierversuchen seien sehr erfreulich, doch man benötige Langzeitergebnisse.

Herzkranke Menschen sind oft chronisch kranke Patienten, Oliver Kretschmar behandelt und begleitet sie über Jahre hinweg. «Es gibt nichts Schöneres, als mit Kindern zusammenzuarbeiten. Kinder wollen gesund sein. Sie wollen herumspringen und so sein wie die anderen.» Das mache die Arbeit ein­facher als mit Erwachsenen, die diese natürliche lebensbejahende Dynamik nicht mehr in diesem Masse haben. Er sieht darin auch einen der Hauptgründe, warum in der Kinderkardiologie so vieles möglich ist. Kretschmar behandelt aber nicht nur die Kinder, sondern betreut auch deren Eltern, sieht ihre Verzweiflung, ihre Ängste. «Sie sind in einer ausser­gewöhnlichen Stresssituation und oft gar nicht in der Lage, zu verstehen, was mit ihrem Kind passiert. Sie müssen Vertrauen in uns haben. Ihnen gebührt höchste Anerkennung und Bewunderung für die Kraft, die sie in ­diesen Momenten aufbringen müssen.»

Er sieht aber auch Familien, die an der Herausforderung scheitern, Ehen, die zerbrechen, gesunde Geschwisterkinder, die leiden. «Das Herz, ein faszinierendes Organ» Oliver Kretschmar wuchs am Niederrhein in der Nähe von Düsseldorf auf. Als Kind interessierte er sich für naturwissenschaftliche Vorgänge, später für die Medizin und für ein ­Organ, ohne das unser Körper nicht funktioniert: das Herz. «Es ist ein faszinierendes Organ, überschaubar in seiner Struktur, aber trotzdem äusserst komplex.» Er arbeitete viele Jahre als Arzt in Berlin, bis er 2004 vom Kinderspital Zürich ein Stellenangebot erhielt und mit seiner Familie in die Schweiz zog. Seit fünf Jahren leitet er die Kinderkardiologie.

Kretschmar ist mehr im Spital als zu Hause. Seine Frau hat Verständnis dafür, auch sie ist Ärztin, wie viele Paare haben auch sie sich bei der Arbeit kennen gelernt. Sie haben drei Kinder im Alter von 12, 14 und 25 Jahren, im Regal in seinem Chefarztbüro steht ein Foto. Manchmal, gibt Oliver Kretschmar zu, werde er seiner Familie nicht gerecht. «Ich habe meinem Vater früher vorgeworfen, dass er nie Zeit für mich hatte, jetzt bin ich genau so. Meine Kinder sagen oft, für die anderen Kinder bist du immer da, nur für uns nicht.» Er arbeitet mit Rufbereitschaft. «Ich möchte, dass mich die Kollegen immer anrufen können, ich finde das ein wichtiges Zeichen.» Sein Handy klingelte schon in den ungünstigsten Momenten, in den Ferien und beim Dinner. Abends, wenn der Spitalbetrieb allmählich zur Ruhe kommt, setzt er sich an den Computer. Für seinen Geschmack verbringt er zu viel Zeit hinterm Schreibtisch, doch wer eine Führungsposition einnimmt, hat zwangsläufig mehr ­administrative Arbeiten zu erledigen. «Die Konsequenz ist, dass man das, was man richtig gut kann, viel weniger oft machen kann», sagt Kretschmar. Froh sei er darum über die wöchentliche Sprechstunde mit seinen Patienten, denn dann ist er nah dran an den Menschen.

Trauer und Wut aushalten

Bei seinen Eingriffen braucht er eine ruhige Hand, er darf sich nicht erlauben, zu zittern, wenn er den Herzkatheter führt. «Ich würde schon behaupten, dass ich in mir ruhe», sagt der 49-Jährige. Doch auch seine Nächte sind manchmal kurz, auch er fühlt sich mal krank, trotzdem wird von ihm volle Leistung verlangt. «Immer, wenn ich in einem Eingriff stecke, ­fühle ich mich innerlich gepusht, man funktioniert einfach.»

Abschalten fällt ihm nicht leicht. «Man nimmt alles mit nach Hause, bewegende Dinge noch viel mehr», gibt er zu. Auch ihm ist schon ein Kind unter den Händen weggestorben. «Manchmal, bei sehr kranken Kindern, muss man akzeptieren, dass es die Natur so gewollt hat und man es auch als Arzt nicht erzwingen konnte», sagt Oliver Kretschmar. Doch wenn ein Patient, der mitten im Leben steht, an einer Komplikation stirbt, dann trifft ihn das selber mitten ins Herz. Halt findet er in seinem Ärzteteam. «Wir tragen die Verantwortung gemeinsam, das hilft in solch schwierigen Momenten sehr.» Er muss die Wut und die Trauer der ­betroffenen Familien aushalten. «Es ist wichtig, dass man dazu stehen kann, dass man etwas nicht hat lösen können, was man meinte, lösen zu können.» Doch dann führt er sich die Tat­sache vor Augen, dass die meisten Operationen gut verlaufen und er kranken Kindern helfen kann. «Viele herzkranke Menschen führen ein mehrheitlich normales Leben, mit Einschränkungen, aber mit Lebensqualität. Kranken ­Kindern eine Perspektive zu bieten, das ist das grösste Ziel meiner Arbeit, meine Motivation.»

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