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Porträt

"Ein Kitz zu schiessen, tut allen Leid." Bild: Nicolas Y. Aebi

Ein Herz für Tiere

Von: Clarissa Rohrbach

24. September 2013

Ladina Esslinger schiesst Tiere aus Überzeugung. Die 30-jährige Jägerin liefert das Fleisch auch in Zürich aus.

«Als ich mein erstes Reh schoss, habe ich geweint.» Ladina Esslingers Blick ist direkt, ihre Züge sind fein. Sie weine immer noch ab und zu, wenn sie ein Tier abschiesse. Ruhig sitzt sie in ihrer eleganten Altbauwohnung, auf dem Tisch ein Jägerwii, im Schrank drei Gewehre und Munition. Sie ist das Gegenteil vom gängigen Klischee des Jägers. Und klärt auch sofort allgemeine Missverständnisse auf. «Es tut mir leid, dass die Tiere sterben müssen. Aber die Jagd ermöglicht einen nachhaltigen Fleischkonsum, denn das Wild lebt frei und erfährt keine Panik wie im Schlachthof. Das Wichtigste ist, dass das Tier nicht leidet.» Ausserdem würden die Jäger das Gleichgewicht in der Natur sichern und die Populationen stabil halten. Denn es sei auch ihre Aufgabe, die kranken und verletzten Exemplare zu erlösen.

Am schütteren Fell, an auffälligem Verhalten oder an Hornmissbildungen erkennt Esslinger Krankheiten. Dies und vieles mehr hat sie beim aufwendigen Theoriekurs und der darauffolgenden Lehrzeit im Revier gelernt. Den Kurs hat sie vor drei Jahren belegt. Dass sie so vieles auswendig lernen musste, überraschte sie. Gesetze, Baumkunde, Wildkunde. Wann die Tiere gebären, wann und ob sie das Geweih abstossen, wie das Alter bestimmt wird. «Ich bin blauäugig rangegangen, es war absolutes Neuland für mich.» Nach erfolgreicher Theorieprüfung übte Esslinger schiessen. Als sie das erste Mal ein Gewehr in der Hand hielt, wurde ihr die Gefährlichkeit des Geräts bewusst. «Auf die Zielscheibe zu schiessen, machte schnell Spass, aber auf ein Tier zu zielen, ist dann doch etwas ganz anderes.»

So rutschte ihr fast das Herz in die Hose, als sie das erste Mal im Freien abdrückte. Esslinger sass am Wald­rand, wartete auf ein Reh, aber stattdessen kam ein Fuchs. «Er litt offensichtlich an Staupe, ich musste ihn schiessen.» Ein korrekter Schuss trifft hinter dem Schulterblatt und geht durch Herz und Lunge. Der Sinn dahinter: der sofortige Tod. Für solch eine Genauigkeit ist das Gewehr mit einem Zielfernrohr ausgestattet, welches das Ziel bis zu zehnmal vergrössert. Auf grosse Distanz sieht Esslinger aber nicht sofort, ob sie richtig getroffen hat. Und so zittert sie vor allem im Moment zwischen dem Schuss und der Feststellung, dass das Tier sofort starb. Den Gedanken, dass es verletzt umherstreifen könnte, hält sie kaum aus. Falls doch, hilft immer ein Hund, der Spur zu folgen.

Stundenlanges Warten

Die 30-Jährige verbringt rund 400 Stunden im Jahr mit Jagen. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Freizeitbeschäf­tigung, sondern auch um eine Ver­pflichtung. Denn im Frühling, wenn die ersten Gräschen spriessen, zählen die Jäger den Rehbestand und melden diesen der Fischerei- und Jagdverwaltung des Kantons. Diese verabschiedet dann einen Abschussplan. Jeder Jäger bekommt eine Anzahl von Rehen zugeteilt, für die er sich zum Abschuss verpflichtet. Er muss auch eingreifen, wenn zu viele Füchse Hühner reissen oder Dachse Weinreben beschädigen. Und dann sind da noch die Wildschweine. Sie vermehren sich rasch, und es gibt eigentlich immer zu viele davon. Bei Bauern sind sie verhasst, weil sie Felder umgraben. Die Jäger verpflichten sich gesetzlich, die Bauern zu entschädigen, falls Wildtiere Felder zerstören oder Vieh angreifen. So hilft das Jagdrecht sowohl der Landwirtschaft wie auch dem Erhalten der Artenvielfalt in der Natur.

Trotz so vieler Stunden draussen schiesst Esslinger nur etwa zehn Tiere pro Jahr. «Die meiste Zeit verbringe ich mit Warten.» Es kommt oft vor, dass sie zwei Stunden auf einem Hochsitz verweilt, ihren Gedanken freien Lauf lässt und einfach nie das richtige Tier kommt. Man darf zum Beispiel kein Muttertier töten, weil sonst die alleingelassenen Jungen sterben. Um das Geschlecht und den Zustand eines Exemplars zu beurteilen, muss sich Esslinger manchmal nur aufs Beobachten beschränken.«Ich geniesse es trotzdem, denn selten im Leben tut man einfach nichts», sagt die Architek­tin. Vom Hochsitz aus bleibt nicht nur das Wild ungestört, sondern auch die Sicherheit gewährleistet. Denn falls die Kugel das Tier nicht trifft, könnte sie bis zu 6000 Meter weiterfliegen und jemanden verletzen. Deswegen schiessen Jäger von oben nach unten und versenken somit die Kugel in die Erde.

Rehe aufbrechen

Seit dem 1. September sind die Rehgeissen und -kitze, also die Weibchen und die Jungen, zum Abschuss freigegeben. Esslinger geht dafür während der Dämmerung in den Wald. Nach dem Schuss muss sie das Tier aufsammeln und ins Auto tragen. Danach hat sie nur eine halbe Stunde, um die Innereien zu entfernen. Denn bei Wiederkäuern bilden sich schnell Gase im Körper, die das Fleisch unappetitlich machen. Esslinger «bricht das Reh auf», schneidet es von der Speiseröhre bis zum After auf und entsorgt die Organe in der Kadaversammelstelle. Idealerweise nach 48 Stunden muss sie das Tier metzgen. Die vakuumierten Fleischstücke lässt sie dann zehn Tage lang reifen, damit sie zarter werden. «Wenn ich meinen Freundinnen davon erzähle, haben sie schon ­Respekt. Aber ich bin da nicht so empfindlich.» Sie habe eine starke männliche Seite, meint Esslinger, und be­wege sich auch sonst in einer Männerdomäne, etwa wenn sie eine Baustelle leite. Aber auch ihre männlichen Kollegen im Revier seien nicht so hartgesotten. «Ein Kitz zu schiessen, das tut allen leid.»

In der Schweiz gibt es zwei Jagdsysteme, die Revier- und die Patentjagd. Wobei im Kanton Zürich die Erstere gilt. Ein Revier entspricht meistens einer Gemeinde und wird während acht Jahren an eine Jagdgesellschaft verpachtet. Davon gibt es im Kanton 173. Esslinger schiesst im Revier Brütten bei Winterthur, besitzt aber nur einen Gästepass. «Ich hoffe, ich werde bald in einer Jagdpacht aufgenommen.» Diese bezahlen meist einige Tausend Franken im Jahr, um jagen zu dürfen. Doch mit dem Verkauf des Fleisches gleicht sich die Investition im Idealfall wieder aus.

Ladina Esslinger liefert ihr eigenes Fleisch und das ihrer Kollegen in der Stadt Zürich aus. Zuerst bekam sie eine Anfrage vom benachbarten Restaurant Vereinigung in Wiedikon. Das Wild verkaufte sich gut. Bald folgten die Restaurants Gartenhof und Rosso sowie das Theater Spektakel. Nun hat sie mit zwei Freunden den Verein Lokalwild zur Förderung der intra­regionalen Netzwerke zwischen Jägern und Konsumenten gegründet. Jedem, der hier bestellt, liefert sie das Fleisch aus. Die Jägerin will kein Geschäft daraus machen. «Ich finde nur, dass dies die grösste Wertschätzung ist, die wir einem Tier entgegenbringen können. Es mit einem feinem Essen zu ge­niessen.»

Sie können das Zürcher Wild unter info@lokalwild.ch bestellen. 

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