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Porträt

Eduard Kornfeld (87) in seiner Wohnung in der Enge: «Den Moment der Befreiung kann ich gar nicht beschreiben.» Bilder: PD

Ein Mann, der wie ein Löwe kämpfte

Von: Jan Strobel

24. Januar 2017

Holocaust-Gedenktag: Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 72. Mal. Der Zürcher Eduard Kornfeld (87) ist einer der letzten Holocaust-Überlebenden in der Schweiz, die noch Zeugnis ablegen können.

Jugendliche Liebe sagt immer Ja zum Leben, und Eduard Kornfeld stand an jenem Sommertag 1944 am Bahnhof des ungarischen Städtchens Velky Meder, zusammen mit diesem Mädchen. Er war verliebt, sie fühlten sich   verbunden, zwei junge Menschen, die durch die Strömungen ihrer Schicksale gleichsam zueinandergespült worden waren. «Sie wusste nicht, wo ihre Eltern waren, genau wie ich. Und dann sagte ich ihr: Du, ich kenne mich aus in Budapest. Lass uns abhauen, lass uns wegschleichen. Doch sie wollte nicht. Sie hätte ihren Onkel im Stich lassen müssen. Also bin auch ich auf dem Perron geblieben – und eingestiegen mit all den anderen Juden, die sich hier für die Deportation versammelt hatten. Ich bin eingestiegen in die Viehwaggons. Wir fuhren tagelang, nächtelang. Kein Mensch wusste, wohin.»

Irgendwann hielt der Zug. Es war Nacht, Totenstille. Am Morgen wurden die Türen der Viehwaggons aufgerissen, «die SS-Männer schlugen hinein, sie brüllten auf Deutsch. Durch das kleine Fensterloch sah ich, wie sie draussen Alte, Kranke und kleine Kinder auf einen Lastwagen warfen.» In der Ferne zeichnete sich ein Kamin ab. «Aus diesem Kamin drang Feuer. Ich fragte: Was ist das? Einer sagte, das sei die Bäckerei. Und ich dachte: Vielleicht könnte ich dort Arbeit finden. Von den Gaskammern und den Krematorien hatte noch niemand eine Ahnung. Wir waren in Auschwitz angekommen.»  
An der Rampe begann die erste Selektion. Besonders entscheidend war die Konstitution. Wer für Josef Mengele, den Todesengel, und seine Mitmörder zu klein oder zu schwach schien, kam direkt ins Gas. Zwillinge wurden für Versuchszwecke «ausselektiert». Eduard Kornfeld war damals, in jenem Sommer 1944, als er vor Mengele stand, 14 Jahre alt. Er entkam der ersten Selektion und wurde dem Jugendblock 21 zugeteilt, der sich im sogenannten Zigeunerlager von Auschwitz-Birkenau befand. Es sollten noch zahlreiche Selektionen folgen.

Auschwitz in Worte fassen
Über Auschwitz zu sprechen, sei unmöglich, darüber zu schweigen, verboten, meinte einmal der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. Für viele Holocaust-Überlebende ist es bis heute schwer, über das zu sprechen, was ihnen während der Zeit der Schoah widerfuhr. Die Albträume holen sie immer wieder ein, die Traumata bleiben oft bis zum Lebensende verschüttet, die Opfer versuchten, ihre Seelen durch Schweigen zu retten. Andere beginnen erst im hohen Alter, über ihr Martyrium zu erzählen, eine Sprache zu finden, Auschwitz irgendwie in Worte zu fassen.
Der Jugend wiederum fällt es schwer, einen richtigen Umgang mit dem Thema Holocaust zu finden. Denn selbst wer heute die Überreste der KZs und die Gedenkstätten in Polen, Deutschland oder Frankreich besucht, kann in keiner Weise erahnen, was dort wirklich geschah. Und besonders Auschwitz bleibt für viele ein fragmentiertes Schreckensbild der Vergangenheit, ein Synonym für das Ende der Menschlichkeit oder für die unvorstellbar mörderischen Abgründe, die selbst sogenannte Kulturmenschen erfassen können.

Eduard Kornfeld hatte schon früh für sich beschlossen, nicht zu schweigen und unermüdlich Zeugnis abzulegen. Am Anfang, kurz nach dem Krieg. sei das mitunter eine ernüchternde Erfahrung gewesen, sagt er. Seine Geschichte stiess in jenen Jahren auf eine  Mauer des Desinteresses. Der Holocaust sollte möglichst verdrängt werden, umso mehr, als für viele in diesem Thema die Frage der Mitschuld dunkel vor sich hin waberte. Doch das Erzählen war für Eduard Kornfeld der wichtigste Weg, das Geschehene irgendwie verarbeiten zu können. Und das ist bis heute so geblieben. Er tue es, betont der 87-Jährige, auch für seine Geschwister, für Hilda (11), Josef (9), Alexander (7) und Rachel (4 ), er tue es für seine Eltern, Rosa (37) und Simon (44). Sie alle wurden in den Gaskammern ermordet.
«Mit 14 Jahren sterben»

Auf Anfrage besucht er heute Schulen, Gymnasien und Universitäten in der ganzen Schweiz, um über seine Erlebnisse zu berichten. Organisiert werden die Vorträge auch von der Zürcher Gamaraal Foundation, die es sich unter anderem zum Ziel gesetzt hat, das Zeugnis der mittlerweile meist hochbetagten, letzten Holocaust-Überlebenden zu bewahren und weiterzugeben. Eduard Kornfelds Zeugnis ist das eines unermüdlichen Kämpfers in einer Höllenwelt, in der ihm nichts blieb als die nackte Existenz, in der das Gefühl, ein Subjekt zu sein angesichts des entmenschlichenden Grauens, immer wieder aufs Neue zurückerobert werden musste. «Ich habe kämpfen müssen wie ein Löwe», sagte er einmal an einem seiner Vorträge. «Mit 14 Jahren sterben – es ist furchtbar, dieses Gefühl zu haben. Und ich wollte leben!»

Was war es, das ihm half zu überleben? «Während einer Selektion in Auschwitz beobachtete ich, dass viele in meiner Reihe leise beteten. Für jeden ging es in diesem Moment um Leben und Tod. Es konnte jeden treffen.» Statt zu beten, versuchte Kornfeld, das System der Selektion zu durchschauen, auf seinen Instinkt zu vertrauen, seine Lebenschancen dadurch zumindest ein bisschen zu erhöhen. «Von den 110 Mann aus meiner Reihe wurden schliesslich nur 2 herausgenommen – einer davon war ich.»

Der Moment der Befreiung
Nach vier Monaten in Auschwitz wird Eduard Kornfeld in andere Lager zur Zwangsarbeit in deutschen Rüstungsbetrieben verschleppt, unter anderen in die Messerschmidt-Werke in Augsburg, wo er Teile für die deutsche Luftwaffe herstellen musste. Vom KZ Kaufering in Bayern kam Eduard Kornfeld über das KZ Dachau ins Nebenlager Riederloh II in einem dichten Wald beim bayerischen Städtchen Kaufbeuren. «Ich dachte: Selbst wenn der Messias käme, er würde uns hier nie finden.» Später folgte ein Todesmarsch über Kaufering wieder zurück ins KZ Dachau.

Am 29. April 1945 wurde das Lager von US-Truppen befreit, nachdem die SS mit Lastwagen abgezogen war. «Diesen Moment der Befreiung kann ich gar nicht beschreiben. Er ist bis heute unvergesslich geblieben», erzählt Kornfeld, der zu diesem Zeitpunkt, schwer lungenkrank und völlig geschwächt, mit einem Gewicht von nur 27 Kilogramm, mit dem Tod kämpfte. «Ich dachte: Nach Auschwitz, nach all dem Grauen, und dennoch sollte ich jetzt sterben?» Nach vielen Jahren in verschiedenen Sanatorien kam Eduard Kornfeld 1949 über eine Cousine, die den Holocaust überlebt hatte, in die Schweiz, konnte sich nach langem Kampf um die Aufenthaltsbewilligung später in Zürich niederlassen und gründete hier eine Familie.

Das Mädchen vom Bahnhof in Velky Meder hatte er sofort nach der Ankunft in Auschwitz an der Rampe zum letzten Mal gesehen. Sie wurde sofort vergast.

Eduard Kornfeld 1942/43, kurz vor der Deportation nach Auschwitz.

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Leserkommentare

Jakob Stefansjky - Und es gibt immer noch Leute die behaupten, das sei nie geschehen. Die neue Wellen des Antisemitismus sollten ernst genommen werde!!!

Vor 7 Jahren 2 Monaten  · 
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Sacha Wigdorovits - Grossartiger Artikel, Jan. Danke.

Vor 7 Jahren 2 Monaten  · 
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