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Porträt

Von der Universität Zürich zum Ehrendoktor ernannt, sein Werk in andere Sprachen übersetzt, seine Oper vertont: Conrad Ferdinand Meyer hatte jedoch nicht nur Erfolge zu verbuchen; vom Leben sah er zumeist die Schattenseiten. Bild: In seinem Arbeitszimmer in Kilchberg, 1895, drei Jahre vor seinem Tod. (Bilder: PD/ ZB Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv/ BEL)

Ein Sonderling im Leben, ein Überflieger in der Literatur

Von: Isabella Seemann

30. Januar 2018

Conrad Ferdinand Meyer, der Zeitgenosse und Gegenspieler Gottfried Kellers, mag vielleicht nicht mehr populär sein, die Lektüre lohnt sich aber noch immer. Jetzt erscheint eine Hörbuch-Edition seines Gesamtwerks. Auf der Spurensuche nach einem grossen Dichter in Zürich.

Es sind aussergewöhnliche Jahre für Zürich, in denen Conrad Ferdinand Meyer heranwächst: In den Jahrzehnten nach 1825, seinem Geburtsjahr, erfindet sich die Stadt neu – städtebaulich, politisch, wirtschaftlich und kulturell. Die Kleinstadt am Fluss wächst zur Metropole am See heran. Die Sprengung der beengenden Stadtbefestigung inspiriert ihn zum Gedicht «An Zürich»: «Als ein Kind bin ich mit frischen Wangen / Durch die Tore Zürichs noch gegangen, / Sie zerbrach den Bann und wuchs und baute, / Sich verjüngend, während ich ergraute.» Conrad, Sohn eines Zürcher Regierungsrats und Historikers, wird durch die im Patrizierhaushalt verkehrenden Intellektuellen schon früh mit der Idee des Liberalismus vertraut. Diese Idee erhält mit der Bundesstaatsgründung 1848 Auftrieb. Zeitgenossen wie Gottfried Keller fühlen sich in ihrem politischen Kampf bestätigt und sind euphorisch. Nicht so Conrad Ferdinand Meyer, der sich in einer schweren Lebenskrise befindet.

Im Zimmer verbarrikadiert

Seit Jugend an hatte er nur ein Ziel: Dichter zu werden. «Grosser Styl, grosse Kunst – all mein Denken und Träumen liegt darin.» Doch die Mutter, eine allzu fromme, feinnervige Person, die von der «Sündigkeit» allen irdischen Tuns überzeugt ist, hält ihren Sohn in ihrer Lebensangst vom allzu Weltlichen ab, auch vom unnützen Dichten. Mit Nachdruck versucht sie ihn zu einem Staatsdiener nach Vaters Vorbild umzuformen. Die Zürcher Gesellschaft hält den seelisch Gebeutelten für kränklich und untauglich und lässt ihn das spüren. Ob der Spannungen gerät er tatsächlich zum Sonderling, führt ein Schattendasein im steifen Haus am Bellevue, verbarrikadiert sich in seinem Zimmer, sodass im noch dörflichen Quartier sogar das Gerücht geht, er sei gestorben.

Die steinernen Zeugen sind längst verschwunden, wie der Spaziergang an die St. Urbangasse zeigt. Der «Lange Stadelhof» und das vornehme Haus zum «St. Urban», das in ­Familienbesitz war, musste 1933 einem gesichtslosen Gebäude Platz machen, obgleich nach Meyers Tod an der Fassade die einzige dem Autor gewidmete Ehrentafel der Stadt hing. Und so erging es praktisch allen acht Häusern, die der Dichter im Lauf seiner 42 Zürcher Jahre bewohnte. Sein Geburtshaus, heute auf Höhe Stampfenbachstrasse 48, lag damals in ländlicher Umgebung und wurde bald eingeebnet zugunsten der Ausdehnung der Stadt Richtung Unterstrass.

Auch an der nächsten Adresse, der Kuttelgasse, blieb kein Stein auf dem anderen: Mit der Umwandlung des Fröschengrabens zur Bahnhofstrasse bekam das ganze Quartier bald ein neues, grossstädtisches Gesicht. Nur einen Katzensprung davon entfernt, im «Grünen Seidenhof» an der Sihlstrasse, an den lediglich noch der Name des Hotels erinnert, erlebt die junge Familie Meyer die harmonischsten Jahre – bis der Vater 1840 überraschend stirbt. Mit fortschreitender seelischer Erschöpfung begibt sich die Mutter mit Conrad und seiner Schwester Betsy unter die Fittiche ihrer Verwandtschaft im erwähnten «Stadelhof».

Befreiung von der Mutter

Conrads nächste Station ist dann eine Nervenheilanstalt bei Neuenburg. Die lebensfreundliche Atmosphäre im Welschland bekommt ihm sehr gut. Nach der Heimkehr ist aber alles wieder beim Alten. Die Mutter leidet ihrerseits an Schwermut; so begibt auch sie sich in die Nervenheilanstalt in Préfargier und geht kurz darauf ins Wasser. Für Conrad aber ist dieses tragische Ereignis eine Befreiung. Er blüht auf, reist nach Paris und mit seiner geliebten Schwester Betsy nach Italien. Bedeutsam sind die Reisen nach Graubünden, die die Grundlage des grossen Romans «Jürg Jenatsch» bilden. Die Geschwister nehmen sich eine Wohnung im Haus «Am Mühlebach» an der Feldeggstrasse 80, von wo sie allerdings schnell wieder wegziehen, weil das Gemäuer aus dem Jahr 1542 «feuchtelt». Dieses ungeliebte Haus ist das einzige der Meyerschen Stadtdomizile, das in die Gegenwart gerettet werden konnte. Es folgt noch das «Schabelitzhaus» an der Tannenstrasse 17 in Oberstrass. Sodann, im Alter von 50 Jahren, heiratet Meyer Louise Ziegler, nach Gottfried Kellers bissigem Wort «eine Million». Die Heirat mit der Tochter des Zürcher Obersten und Stadtpräsidenten Eduard Ziegler verhilft ihm zu beachtlichem gesellschaftlichen Ansehen. Arriviert, pflegte er Kontakt mit grossen Dichtern seiner Zeit.

Jahre des Glücks

1877 zieht er nach Kilchberg und geht dort auf seinem wunderschönen Anwesen an der Alten Landstrasse 170, mit herrlichem Blick über den Zürichsee und auf die Berge, seiner dichterischen Berufung nach. Seine Tochter Camilla kommt 1879 auf die Welt. 1880 ernennt ihn die Universität Zürich zum Ehrendoktor. Und seine Dichtung bringt ihm weithin grosse Anerkennung: Seine Werke gibt es in vielen Auflagen, und sie werden teilweise in andere Sprachen übersetzt, er wird mit dem deutschen Maximilien-Orden ausgezeichnet, von Sigmund Freud hochgeschätzt, drei Komponisten vertonten «Die Hochzeit des Mönchs» als Oper. Doch nach und nach nehmen die Schattenseiten des Erfolgs Überhand. Betsy hatte den Bruder zwar zur Heirat ermuntert, doch blieb das Verhältnis zur eifersüchtigen Schwägerin äusserst gespannt. Um 1890 beginnt Meyers schwere Erkrankung, die den Rest seines Lebens verdüstert und seine schöpferische Kraft versiegen lässt.

Nur Strassenname bleibt

1892 wird er in der «Kant. Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden» hospitalisiert. Bei seiner Entlassung ist seine geistige Kraft gebrochen. Er lebt noch eine Zeit lang zurückgezogen in Kilchberg, unter der Obhut seiner Frau, und sehnt sich nach dem Jenseits, «wo nicht mehr so viel Leid und Geschrei ist». 1898 wird Conrad Ferdinand Meyer auf dem Friedhof in Kilchberg begraben, einen Katzensprung von seiner Heimatstadt entfernt, die nach der Eingemeindung fünf Jahre zuvor zu Gross-Zürich herangewachsen war. In Zürich erinnert nur noch eine Strasse in der Enge an den grossen Dichter.

Weitere Informationen: Das Gesamtwerk von C. F. Meyer auf 46 CDs mit 3000 Seiten Lesetext und Kommentar, herausgegeben von Albert Bolliger, Musik- und Hörbuch-Verlag Sinus.

«C. F. Meyer – Hommage für einen grossen Dichter» am 7. Februar um 19 Uhr in der Predigerkirche Zürich. Mit Manfred Papst (Moderation), Iso Camartin (Referat), Frank Arnold und Gerd Wameling (Rezitation). Der Eintritt ist frei (nur mit Voranmeldung an sinus-verlag@bluewin.ch).

«Wer Meyer liest, weiss mehr»

Conrad Ferdinand Meyer gilt als Schülerschreck. Wie kann man sich ihm wieder annähern?

Albert Bolliger: Conrad Ferdinand Meyer kann schon deshalb kein Schülerschreck sein, weil seine Werke – wie übrigens die aller anderen Klassiker auch – heute aus den Schulbüchern fast ganz entfernt wurden. Sicherlich ist Conrad Ferdinand Meyer schwieriger zu lesen als heutige Erfolgsschriftsteller wie etwa Martin Suter. In Meyers historischen Erzählungen wie auch in seinen Gedichten werden aber alle Bereiche des menschlichen Seins tiefschürfend und mit grosser stilistischer und dramaturgischer Meisterschaft abgehandelt. Wer Meyer liest, weiss mehr. Denn wer keinen Bezug zur Geschichte hat, dem fehlt in gewisser Hinsicht der Boden unter den Füssen.

Was hat uns Conrad Ferdinand Meyer heute zu sagen?

Viele seiner Gedichte gehören zum Besten, was die deutschsprachige Literatur hervorgebracht hat. Liebe, Leidenschaft, Macht, Verrat und Verbrechen – jeder Lebensbereich des Menschen ist abgedeckt. Meyer ist kein harmloser Autor. Seine Novellen sind von zeitloser Aktualität, wie beispielsweise «Das Leiden eines Knaben», die vom Missbrauch eines schwach Begabten durch einen Priester erzählt. Es handelt sich, wie bei allen Novellen Meyers, um eine überaus spannende Lektüre. Ich wage die Behauptung, dass nichts langweiliger sei als anspruchslose Literatur.

Sie haben sechs Jahre lang am Gesamtwerk Meyers gearbeitet. Was trieb Sie an?

Zu Beginn war es nicht meine Absicht, das Gesamtwerk zu veröffentlichen. Aber gleich die erste C.-F.-Meyer-Produktion kam auf die hr2-Hörbuchbestenliste (vom zweiten Hörfunkprogramm des Hessischen Rundfunks, Anm. d. Red.). Die Faszination und Begeisterung für Meyer stieg mit jedem Werk. Dass ich auf dem richtigen Weg war, zeigten die begeisterten Rezensionen auch aus Deutschland sowie die viermalige Bestenliste, zuletzt der Gedichte auf dem 1. Platz. All dies hat bewirkt, dass Meyer gegenwärtig wieder wahrgenommen wird.

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