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Porträt

Ein Sturz, und das Leben steht kopf

Von: Ginger Hebel

27. Dezember 2016

Ein Unfall veränderte das Leben der fünfköpfigen Familie Laux.

Tochter Nena erlitt als Kind einen Hirnschlag und war einseitig gelähmt. Mutig und mit eiserner Disziplin kämpft sich die heute 16-Jährige zurück.

Frühling 2004. Die dreijährige Nena sitzt mit ihrer Schwester im Leiterwagen, wie so oft. Der Nachbarsjunge zieht die beiden. Sie spielen, sie lachen, dann kippt der Wagen. Nena schlägt mit dem Hals auf dem Randstein auf. Die Mutter bekommt vom Unfall nichts mit, aber sie erinnert sich, wie ihre Tochter weinend auf sie zurannte. «Ich tröstete sie, dann spielte sie weiter», sagt Elisabeth Laux.

Ein paar Tage nach dem Unfall hing Nenas Mundwinkel leicht herunter. Die Eltern dachten sich erst nichts dabei. Doch plötzlich konnte die Kleine ihren linken Arm nicht mehr bewegen, «wir bekamen Angst». Im Spital dann die Hiobsbotschaft: Nena hatte einen Hirnschlag erlitten, ausgelöst durch den Sturz. Ein Blutgerinnsel hatte die Gefässe verstopft und Hirnzellen absterben lassen. «Das Schlimmste war das Gefühl, unserem wehrlosen Kind nicht helfen zu können», sagt Elisabeth Laux. Nena war einseitig gelähmt. Das quirlige Mädchen, das schon mit drei Jahren Rollerblades fuhr, konnte nicht mehr selbstständig sitzen. Die Ärzte gingen davon aus, dass Nena ihre linke Hand nur noch als Hilfshand benutzen kann.

Ein starker Wille

Ein halbes Jahr verbrachte sie im Rehabilitationszentrum in Affoltern am Albis und entwickelte eine eigene Gangart. Seit dem Unfall muss sie eine Beinschiene tragen, weil sie den Fuss nicht richtig aufsetzen und abrollen kann. Es gab Zeiten, da weigerte sie sich, im Sommer kurze Hosen und Röcke anzuziehen, wegen der Sprüche anderer Kinder. Trotz Handicap besuchte sie die normale Schule. Ihre Schwestern halfen ihr bei den Hausaufgaben, doch das Lernen fiel ihr schwer. Hirnverletzte Kinder brauchen ungefähr 800-mal mehr Zeit, bis sich das Gelernte im Kopf festsetzt. Ein Wechsel in die Schule für Körper- und Mehrfachbehinderte in Zürich-Wollishofen war unvermeidbar. Nena hat einen starken Willen und Selbstdisziplin. Sie macht täglich ihre Übungen und geht in die Physiotherapie. Wenn sie fit ist, merkt man nicht, dass sie eine leichte körperliche Behinderung hat. Nur wenn sie müde ist und ihre Konzentration nachlässt, wird ihr Gang schleppend, und ihre Bewegungen entgleiten ihr.

Elisabeth Laux war nie eine ängstliche Mutter. Sie liess ihre drei Töchter immer draussen spielen und auf Bäume klettern, «ich wollte sie in ihrer Aktivität nicht hemmen». Auch nach Nenas Unfall unterdrückte sie jedes aufkommende Angstgefühl. Doch als Nena mit zwölf Jahren einen Schulaustausch in Madrid machen wollte, weigerte sie sich erst. «Wir wollten unser Mädchen nicht gehen lassen, aber es war ihr grosser Wunsch, darum gaben wir nach.» Ein halbes Jahr später kehrte Nena wie verwandelt zurück. Sie sprach jetzt Spanisch und gewann etwas, was noch viel wichtiger war: Selbstvertrauen. Sie trug Hotpants und Beinschiene, ohne sich dafür zu schämen. «Als ich sie so sah, wusste ich, egal, was sie künftig in Angriff nimmt, es wird Umwege geben, aber sie wird es schaffen», gibt sich Elisabeth Laux zuversichtlich.

Die Kraft von oben

Heute ist Nena sechzehn. Sie liebt Hunde, Pferde und ihr Slalomboard und engagiert sich als Jungleiterin in der Jungschar. Sie hat keine Berührungsängste, erst recht nicht gegenüber Behinderten. Blinden greift sie unter die Arme, begleitet sie über die Strasse. «Ich denke, der Unfall hatte auch seine guten Seiten. Ich helfe anderen und schaue nicht einfach weg», sagt Nena Laux. Die Familie hat schwere Jahre hinter sich. Elisabeth Laux haderte oft mit dem Schicksal, besonders die Beziehung zu ihrem Mann litt darunter. Doch auch sie kämpfte. In einer Paartherapie lernten sie, wieder miteinander zu reden, statt zu verdrängen. Heute sind sie in erster Linie dankbar, dass Nena so gute Fortschritte erzielt. Als Mitglieder der reformierten Landeskirche glauben sie an die Kraft von oben. «Wir sind überzeugt, dass der liebe Gott uns geholfen hat. Wir sind als Familie viel näher zusammengerückt und tragen Sorge zueinander.»

Zurzeit macht Nena eine Schnupperlehre im Service und träumt von einer Lehrstelle. «Ich   möchte später eine eigene ­Wohnung haben und selbstständig sein.» Das ist es auch, was sich die Mutter für ihre Tochter wünscht: ein unabhängiges Leben. Silvester feiert Nena ohne ihre Schwestern und ohne Eltern. Sie wird an einem Snowboard-Lager teilnehmen. Es ist ihr nächster Schritt in die Selbstständigkeit.

Info

Alle 30 Minuten erleidet in der Schweiz eine Person einen Hirnschlag, dies bedeutet 16 000 Betroffene pro Jahr, darunter Hunderte Kinder und Jugendliche. Ein Viertel aller Patienten stirbt, jeder Dritte erreicht das Spital zu spät, um wirksam behandelt werden zu können, und bleibt behindert. Ein Hirnschlag wird durch eine Durchblutungsstörung im Gehirn verursacht. Meist verstopft ein Blutgerinnsel ein Gefäss, wodurch das betroffene Areal nicht mehr mit genügend Sauerstoff versorgt wird und Hirnzellen absterben. Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute, deshalb ist es wichtig, dass bei Symptomen wie Sprachstörungen, Taubheitsgefühlen oder Lähmungserscheinungen sofort eine Spezialklinik aufgesucht wird. Stroke Center und Stroke Units in den Spitälern haben sich auf die Behandlung von Hirnschlagpatienten spezialisiert. www.hirnschlag.ch

3 Fragen an Vanda Mathis

Ein Schlaganfall kann auch junge Menschen treffen. Jeden Monat erleidet in der Schweiz ein Kind einen Hirnschlag.

Vanda Mathis: Ja. Jedoch sind sich viele nicht bewusst, dass auch Kinder betroffen sein kön- nen. Hirnverletzungen entstehen vor, während oder nach der Geburt, aber auch durch einen Unfall oder eine Krankheit. Entzündungen im Gehirn, aber auch Blutungen, Tumore oder ein Schädel-Hirn-Trauma können Auslöser sein. Oft machen sich die Folgen erst später bemerkbar, im Sinne von Lernschwierigkeiten, Konzentrations- oder Persönlichkeitsstörungen.

Was ist die grösste Herausforderung für betroffene Eltern?

Nicht zu wissen, was auf sie zukommt, wie sich eine Hirnverletzung auswirkt; jedes Kind ist anders, jedes Hirn reagiert anders. Wenn gesunde Kinder einen Hirnschlag erleiden, stellt sich das ganze Leben der Familie auf den Kopf. Auch finanziell geraten viele in Schwierigkeiten. Es entstehen Lohnausfälle, wenn die Kinder lange im Spital sein müssen, zudem gibt es bei der Rückkehr in die Schule und später bei der Suche nach einer Lehrstelle oder einem Job oft Probleme.

Der Zürcher Verein Hiki wurde vor 30 Jahren von Eltern hirnverletzter Kinder gegründet. Was ist seine Aufgabe?

Wir unterstützen schweizweit rund 180 Familien durch Beratung und finanzielle Direkthilfe. Wir bieten Entlastung an wie Familienhelferinnen, die sich um Kinder und Haushalt kümmern. Die Hilfsmittelbörse macht möglich, dass betroffene Eltern angepasste Velos oder Pflegebetten aus zweiter Hand erstehen können. 

Vanda Mathis (Foto) ist Geschäftsführerin von Hiki. www.hiki.ch

 

 

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