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Porträt

Hilfe annehmen ist keine Schwäche

Von: Ginger Hebel

04. April 2017

Fredi Levi kauft ein, kocht und kümmert sich um seine Frau, die an MS leidet. Sie lässt sich von ihm helfen, und auch er lässt sich helfen – vom Zürcher Entlastungsdienst.

Fredi Levi schneidet mit routiniertem Griff eine Zwiebel. Seine Frau Ursi schaut zu, wie er das Mittagessen kocht. Der 65-Jährige ist Hausmann, er kümmert sich um den Haushalt und betreut seine Frau, die im Rollstuhl sitzt und auf seine Hilfe angewiesen ist. Ursi Levi (60, ehemalige Zahnarztgehilfin in der Schulzahnklinik), leidet an MS, Multipler Sklerose.

Die Krankheit brach aus, da war sie 24-jährig, ihre beiden gemeinsamen Söhne waren damals noch klein. Anfangs seien die Einschränkungen minim gewesen, sie machten Hausbootferien, gingen wandern. «Wir führten ein normales Familienleben», erzählt Ursi Levi. Die Krankheit verläuft schubartig, die Schübe lassen sich nicht voraussagen, Symptome treten auf und verschwinden wieder. Seit sechzehn Jahren sitzt Ursi Levi im Rollstuhl, die Beine wollen nicht mehr, sie hat Krämpfe und Zuckungen, manchmal bereitet ihr auch das Reden Mühe.

Mit 58 Jahren liess sich Fredi Levi, früher operativer Chef beim Zürcher Zivilschutz, pensionieren, seither kümmert er sich um seine Ursi, Tag und Nacht. Seit sechs Jahren hilft er ihr beim Transfer, vom Rollstuhl aufs Sofa, ins Bett, auf die Toilette. Manchmal überfällt sie ein Anflug von Angst, weil sie weiss, dass sie ihren Mann braucht.

In guten wie in schlechten Zeiten

Zehntausende Frauen und Männer in der Schweiz betreuen und pflegen ihre Angehörigen. Für Fredi war immer klar, dass er für seine Frau da sein will, in guten wie in schlechten Zeiten. Eine moralische Verpflichtung? «Nein», sagt Levi, es sei mehr ein Bekenntnis zu seiner Partnerin, «wir sind gut aufeinander eingespielt.» Aber auch der finanzielle Aspekt spiele eine Rolle. «Ein Pflegeheim ist teuer, dann könnten wir jetzt nicht in einer so schönen Wohnung leben.»

Die rollstuhlgängige Alterswohnung in der Siedlung Frieden in Zürich-Affoltern verfügt über einen Wäsche-Service und Spitex-Dienst. Sie ist modern, mit zwei grossen Balkonen und Blick ins Grüne, wenn immer möglich grilliert Fredi Levi und organisiert jedes Jahr ein Grillfest für die Bewohnerinnen und Bewohner. Die beiden haben getrennte Schlafzimmer und ein Babyphone, damit Fredi nachts hört, wenn seine Frau ihn braucht. Immer an ihrer Seite: Katze «Meitli» aus dem Tierheim. Sie ist dreifarbig, eine Glückskatze, wie man im Volksmund sagt. «Ich habe sie meiner Frau gekauft, als ich noch gearbeitet habe, damit sie nicht so alleine ist.»

Fredi und Ursi Levi sind viel zuhause. «Mit einem Rollstuhl ist man handicapiert. Wenn wir einen Ausflug machen wollen, müssen wir ihn genau planen. Viele Toiletten in den Restaurants sind nicht rollstuhlgängig.» Demnächst wollen sie zur Kartause Ittingen. «Ich möchte sie gerne mal wieder entführen», sagt Fredi, und seine Frau kontert. «Entführen? das tönt gut.» Sie schäkern zusammen, auch noch nach 38 gemeinsamen Jahren. Es gab eine Zeit, da hatte Fredi fast keine Kraft mehr, der Job, seine kranke Frau, «die ständige Präsenzzeit ist belastend und bringt einen an seine Grenzen», gibt er zu.

Auszeit für pflegende Angehörige

Er hatte ein Burnout – und holte sich Hilfe beim Entlastungsdienst. «Viele warten viel zu lange, bis sie sich Hilfe von aussen holen. Sie schämen sich, aber Hilfe annehmen ist keine Schwäche, es bringt für beide Abwechslung», ist Fredi Levi überzeugt. Alle zwei Wochen kommt für zwei Stunden eine Betreuerin zu ihnen. Die beiden Frauen verstehen sich gut, sie schwatzen zusammen, gehen einkaufen. Dann hat Fredi Levi Zeit für sich und geht Bachforellen fischen in der Reppisch, gerade plant er das Eröffnungsfischen am Karfreitag. Während bei der Spitex die ambulante medizinische Behandlung im Vordergrund steht, verschafft der Entlastungsdienst pflegenden Angehörigen eine Auszeit, damit sie Energie tanken können. «Es kommt immer dieselbe Person, so entsteht auch ein sozialer Kontakt», sagt Fredi Levi. Den Entlastungsdienst möchte er nicht mehr missen. «Man weiss erst, wie wertvoll diese Hilfe ist, wenn man sie in Anspruch nimmt.»

Demnächst muss Fredi Levi seine Hüfte operieren lassen, in dieser Zeit macht Ursi Ferien mit der MS-Gesellschaft und geht danach für ein paar Wochen ins Pflegeheim, bis ihr Mann wieder fit ist. Die Söhne sind da, wenn sie gebraucht werden. «Sie geben uns Rückhalt, aber sie haben ihr eigenes Leben, und das ist gut so», sagen Ursi und Fredi Levi.

"Entlastung soll sich jeder leisten können"

 

Zehntausende pflegen in der Schweiz ihre Angehörigen. Wie wichtig ist dieses Engagement?

Sehr wichtig, ohne diesen Einsatz würde unser Gesundheitssystem nicht funktionieren, wir hätten viel zu wenig Pflegepersonal, zudem würden die Kosten explodieren. Wenn man die Arbeit zahlen müsste, die pflegende Angehörige leisten, käme man im Kanton Zürich auf 650 Millionen Franken pro Jahr.

Wo sehen Sie die grösste Herausforderung für pflegende Angehörige?

Viele Personen, die ihre Angehörigen betreuen, sind selber noch berufstätig. Dies sind oft Frauen, die sich gleichzeitig um ihre eigene Familie und die pflegebedürftigen Eltern kümmern. Alles unter einen Hut zu bringen, ist für sie eine grosse Belastung. Auch wegen dem steigenden Druck im Arbeitsmarkt. Gross ist auch die Zahl der Personen, die ihre/n Partner/in pflegen, und selber schon über 75 Jahre alt sind. Damit das Engagement dieser Menschen nicht zur Überlastung führt, sind Verschnaufpausen wichtig. Wir raten darum pflegenden Angehörigen, stunden- oder tageweise Entlastung in Anspruch zu nehmen.

Doch wer Entlastung will, zahlt.

Ja. Unser Dienst kostet für IV-Bezüger 25 Franken pro Stunde, für alle anderen 38 Franken. Tarifreduktionen sind jedoch möglich. Es ist unser Anspruch, dass sich Entlastung jeder leisten kann.

www.entlastungsdienst.ch

Daten und Fakten: Pflegende Angehörige

80 Prozent der Pflegebedürftigen in der Schweiz werden von Angehörigen betreut. Im Kanton Zürich sind es rund 30 bis 35 000 Personen, die von erwerbstätigen Familienangehörigen gepflegt werden. Die Pflegenden sind nach wie vor meistens Frauen, doch die Männer holen auf. Pflegende Partner/Partnerinnen sind im Schnitt 76,5 Jahre alt, und investieren rund 60 Stunden pro Woche in die Pflege, im Schnitt sechs Jahre lang. Pflegende Töchter und Söhne sind im Schnitt 56,5 Jahre alt. Bei den Frauen haben zwei Drittel ihr Arbeitspensum reduziert, 16 Prozent gaben ihren Job ganz auf. In den städtischen Pflegezentren werden aktuell 1585 Personen betreut. Quelle: Swiss Age Care, Spitex.

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