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Porträt

Die Pandemie hat ihm wirtschaftlich zugesetzt: Trotzdem verliert «Tagblatt der Stadt Zürich»-Mitarbeiter René Rais

«Ich bin ein Chamäleon»

Von: Werner Schüepp

06. Oktober 2020

Das Coronavirus hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht: Der Unternehmer René Rais, der unter anderem für das «Tagblatt der Stadt Zürich» im Verkauf tätig ist, spürt den Einbruch des Inseratemarktes im eigenen Portemonnaie. Dennoch gibt er auch mit 72 Jahren nicht auf.

Fürs Gespräch schlägt René Rais ein Hotelrestaurant in einem Zürcher Aussenquartier vor. Als er beim Betreten des Lokals erste Personen mit Masken vor den Gesichtern sieht, verzieht er keine Miene, murmelt etwas Unverständliches und zuckt mit den Schultern. Die Welt sei nicht mehr die gleiche wie vor einem halben Jahr, sagt er. Obwohl sonst nicht der «Grübler-Typ», hat er in den vergangenen Monaten viel nachgedacht, denn die Pandemie hat ihm wirtschaftlich stark zugesetzt. «Seit diesem Frühling verdiene ich praktisch nichts mehr», sagt er, «meine Erträge sind um 70 Prozent eingebrochen». Nicht in seinen kühnsten Träumen hatte er sich ausmalen können, dass ein Virus einst die Weltwirtschaft vorübergehend lahmlegt.

Rais, 72 Jahre alt, Unternehmer mit Leidenschaft, flirtet mit der Serviceangestellten, die ihm ein Glas Wein bringt, und ballt die Faust. «Ich habe in meinem Leben nie zurückgeschaut. Das mache ich auch jetzt nicht», sagt er, «irgendwann ist dieser Virus besiegt und dann geht es mit Vollgas wieder vorwärts». Bis es so weit ist, hat er ein Problem: Wie verkauft man Marketingstrategien in Zeiten, in denen viele Firmen ihre Werbung reduzieren oder ganz auf solche verzichten? Ein hartes Geschäft, haben doch gerade Tages- und Wochenzeitungen in den vergangenen Jahren immer mehr zu kämpfen – gegen Anzeigenschwund, rückläufige Abonnentenzahlen und die stärker werdende Konkurrenz des Internets.

Spezialgebiet Nachtleben

René Rais, gebürtig aus Delémont, wohnt seit 1963 in der Stadt Zürich und seit vielen Jahren in Unterstrass. Nach der Schule absolvierte er eine kaufmännische Lehre, kombiniert mit einer Sportartikel-Verkäuferausbildung. Die Mutter sah ihn zwar lieber als einen Pfarrer, aber «mein Interesse am weiblichen Geschlecht stand diesem Wunsch ziemlich in der Quere», sagt er. Mehr Privates will der Vater von zwei erwachsenen Töchtern nicht erzählen.

Mitte der 1970er-Jahre, mit 27 Jahren, wechselt er in den Anzeigenverkauf, er beginnt beim «Züri-Leu», später folgt die «Züri Woche». «Das Verkaufen liegt mir im Blut und ich habe gern Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen.» Sein Spezialgebiet wird der Gastro- und Ausgehbereich Zürichs, in dem er über die Jahrzehnte ein grosses Netz an Stammkunden aufbaut. Rais ist rasch erfolgreich, weil er seine Tätigkeit mehr als Berater denn als Verkäufer sieht. Er bietet massgeschneiderte Kundenlösungen wie Budgetberatungen an, erstellt auf Wunsch Pressedokumentationen oder realisiert Fotoreportagen. Er ist ein Unternehmer, der seinen Klienten mit Idee, Text- und Gestaltungsvorschlägen zur Seite steht und diese auf Wunsch auch gleich kreativ umsetzt. Ein berühmtes Beispiel war die von ihm erfundene Seite «Nachtexpress» im «Tagesanzeiger», auf der alle Zürcher Bars und Nachtclubs von Rang und Namen ihre Werbung schalteten und Rais zudem mit selbstgeschriebenen Texten die Leserschaft unterhalten hat. «Ich bin ein Chamäleon», beschreibt er seine Anpassungsfähigkeit, «ein Rebell, ein Individualist, der am liebsten selbstständig arbeitet». Überhebliche Chefs, die Druck machen, habe er nie gut vertragen und diese Eigenschaft ist verantwortlich, dass er zeitlebens ein Einzelkämpfer mit Temperament und Sensibilität geblieben ist.
Als die «Züri Woche» im Frühling 1982 eingestellt wird, macht sich René Rais selbstständig und gründet das Ein-Mann-Unternehmen WBG. «Der Schritt war für mich kein zu grosses Risiko. Ich konnte auf einen Kundenstamm zurückgreifen, den ich über Jahrzehnte sorgfältig aufgebaut und gepflegt habe.»

Herzblut als Argument

Hat er schnell den Kundenabschluss vor Augen? Nein, dies sei keine zielführende Methode, er-klärt Rais, vielmehr gelte es, durch seriöse Arbeit das Vertrauen des Kunden zu gewinnen. «Der Verkäufer sollte den Kunden immer so behandeln, wie dieser gerne behandelt werden möchte.» Sein Erfolgsrezept? Man muss in der Lage sein, den Menschen, dem man etwas verkaufen will, zu «lesen», sich auf sein Gegenüber einzustellen sei wichtig.

Dabei pfeift Rais auf Verkaufstheorien, die von der Persönlichkeitspsychologie abgeleitet sind und helfen sollen, Kunden besser einzuschätzen. «Alles blutleere Theorien», sagt er, «Charme, Schalk, Witz sowie eine Portion Freundlichkeit sind viel effizienter und eine schnelle Auffassungsgabe schadet auch nicht». Ob ein Verkäufer schliesslich Erfolg hat oder nicht, hängt laut René Rais zu 80 Prozent von der mentalen Einstellung ab. «Wer mit Herzblut verkauft, verkauft automatisch gut.»

Solche Verkaufstypen von altem Schrot und Korn wie ihn gebe es nicht mehr viele. «Wir sterben langsam aus. Die Verkaufsbranche hat sich verändert, ist unpersönlicher und schneller geworden. Deshalb ist in den heutigen Zeiten Kundenpflege umso wichtiger.» Zum Beweis zeigt er sein iPad und wedelt demonstrativ mit dem Smartphone in der Luft herum. «Solang ich meine gesamte Adresskartei noch auswendig im Kopf gespeichert habe, gehöre ich noch lange nicht zum alten Eisen.»

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